Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
unempfindlichere. Auch bei MR und GR gibt es wieder ein Plus und ein Minus. Über die beiden Rezeptoren nimmt das Kortisol Einfluss auf die Funktion und Programmierung der Nervenzelle. Grundsätzlich hat Kortisol, wie bereits erwähnt, die Eigenschaft, das erregte Stresssystem wieder in seine Ruhelage zu bringen. So wie die Kälte- und Wärmesensoren beim Pantoffeltierchen für Aufwärts- und Abwärtsbewegungen sorgen, so fährt der MR das Stresssystem hoch, der GR fährt es wieder herunter – so lange, bis es in seine Ruhelage zurückfindet. In diesem Zustand spüren wir, wie sich unsere Spannung löst und sich ein wohliges Gefühl ausbreitet. Wir sind dann sozusagen in der »emotionalen Homöostase«. Mit dem experimentellen Beleg, dass das »Prinzip der Homöostase« auch für das Gleichgewicht unseres Stresssystems gilt, gelang es dem Lübecker Forscherteam, die Gültigkeit des zweiten Grundsatzes der Selfish-Brain-Theorie – das Stresssystem kehrt wieder zurück in seine Ruhelage – nachzuweisen.
Die Auswirkungen des Kortisolzugriffs auf die Neuronen, das Gehirn und auf unser Leben gehen aber noch viel weiter. Um dies zu verstehen, um zu begreifen, wie Stress unser Leben und Lernen bestimmt, lohnt es sich, die Funktionsweise der MR - und GR -Rezeptoren näher zu betrachten. Der niederländische Stressforscher Ron de Kloet hat ihr Zusammenspiel als Erster erkannt und als MR - GR -Balance beschrieben. Genau wie Yin und Yang oder Plus und Minus stehen sich die beiden Kortisolrezeptoren gegenüber. Mit jedem Ereignis, bei dem Stress entsteht, wird Kortisol aktiv. Wie viel Kortisol die Neuronen flutet und wie es dort verarbeitet wird, entscheidet darüber, ob wir ein Stressereignis positiv oder negativ abspeichern.
Marlon H. ist aufgeregt. Er befindet sich an Bord einer kleinen Maschine in 3500 Meter Höhe. Marlons erster Absprung mit einem Fallschirm steht unmittelbar bevor. Es ist ein Tandemsprung, das heißt, Marlon springt mit einem erfahrenen Fallschirmspringer zusammen ab. Beide sind über Gurte miteinander verbunden. Marlons Herz rast, seine Muskeln zittern, Adrenalin jagt durch seine Blutgefäße. Nach 45 Sekunden freiem Fall öffnet sich der Fallschirm. Fünf Minuten dauert der Gleitflug zur Erde. Die Landung ist perfekt. Marlon ist von seinem Erlebnis wie berauscht. Der Stress vor dem Absprung verwandelt sich in ein euphorisches Hochgefühl. Das beim Sprung nach oben geschnellte Kortisol bringt das Stresssystem rasch wieder in seine Ruhelage. Zum Ende der Erholungsphase fällt das Kortisol dementsprechend auch wieder auf Ruhewerte ab. Vornehmlich die empfindlichen MR -Rezeptoren in seinen Neuronen sind jetzt aktiv. Nun setzt der Lernprozess in den Zellen und somit auch im Gehirn ein. Die MR initiieren die sogenannte Langzeitpotenzierung. So nennt man den molekularen Mechanismus, der unserer Gedächtnisbildung und unserem Lernen zugrunde liegt. Dabei werden die Signale an den sogenannten Synapsen, das heißt an den Stellen, wo die sendende Nervenzelle an die empfangende Nervenzelle andockt, verstärkt übertragen. Das stressbegleitete Erlebnis des Fallschirmsprungs wird mit vielen Details ins Langzeitgedächtnis überführt. Der niedrige Kortisol-Spiegel am Abend führt dazu, dass Marlon in tiefen Schlaf fällt. In der Tiefschlafphase werden alle Ereignisse des Tages, jeder Handgriff, jede Entscheidung im Hippocampus und in der Amygdala nacherlebt. Dieses nächtliche Hirntraining dient der Gedächtniskonsolidierung. Das positive Erlebnis des Sprungs wird gelernt und als neues Wissen abgespeichert. Emotional wirkt so ein Lernprozess motivierend. Das Gehirn sendet eine Botschaft wie diese: »Ja, es macht Spaß, und du kannst hier mehr erreichen …« Marlon ist am nächsten Tag fest entschlossen, es wieder zu probieren, um seine ersten Erfahrungen anwenden und vertiefen zu können.
Was aber würde passieren, wenn beim Sprung etwas schiefgegangen wäre? Was, wenn Marlon Augenzeuge geworden wäre, wie ein anderer Schüler tödlich verunglückte? Oder wenn er selbst bei der Landung verletzt worden wäre? Dann wäre ein ganz anderes Lernprogramm gestartet worden: »Angewandte Strategien nicht speichern, da erfolglos und gefährlich.« Bei einem anhaltenden Stresserlebnis wie einem Unfall wird wesentlich mehr Kortisol freigesetzt. Jetzt laufen die GR in den Zellkernen der Neuronen voll und werden aktiv. Dieser Kortisol-Tsunami sorgt dafür, dass die GR bestimmte Synapsen zwischen den Neuronen schwächen.
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