Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
verschlechtert. Und es kann noch schlimmer kommen. Wenn auch Plan B nicht mehr genügend Energie generiert, schaltet das Gehirn auf den finalen Plan C um – die dritte und letzte Stufe. Das ist kein Energiekompromiss mehr, sondern entspricht der Vorgehensweise eines Krisenstabs. Plan C bedeutet nämlich: Energie sparen. Das Gehirn fährt die Systeme herunter. Zuerst die energieaufwendigsten, die nicht lebensnotwendig sind. Akut heißt das: Die Körpertemperatur wird abgesenkt und die Muskulatur ermüdet; langfristig kommt es zu Desinteresse an Sex und an der Partnersuche, die Wundheilung verlangsamt sich, bei Kindern kann es zu Wachstumsstörungen kommen, Mütter können nicht mehr stillen. Nimmt in der akuten Situation die Energiezufuhr weiter ab, kommt es zur finalen Krise: Das letzte Opfer des Gehirns ist die Wachheit. Wenn so wenig Energie im Gehirn ist, dass das Leben der Neuronen gefährdet ist, schaltet sich die zerebrale Hauptsicherung aus. Sie befindet sich in einem Areal des Gehirnstamms, das Substantia nigra genannt wird. Hier arbeitet das entscheidende zentrale Messzentrum für den ATP -Gehalt des Gehirns. Unterschreitet das ATP einen kritischen Grenzwert, wird augenblicklich das Koma ausgelöst. Es handelt sich dabei um eine Schutzfunktion des Gehirns, »Neuroprotektion« genannt. Würde das Gehirn bei ATP -Mangel weiterarbeiten, käme es unweigerlich zu einem Massensterben der Nervenzellen. Das Abschalten ist die letzte Option, um das Gehirn am Leben zu erhalten – bis Hilfe von außen kommt, zum Beispiel in Gestalt eines Notarztes, der Glukose injiziert. Diese Zuckerdosis wirkt wie ein Energieanschub, der die im Standby-Modus verharrenden »komatösen« Neuronen umgehend wieder aktiviert.
Doch zurück zu den beiden Fragen, die eingangs dieses Kapitels aufgeworfen wurden: Wie reagiert das Gehirn eines Typ-1-Diabetespatienten auf die Zufuhr von künstlichem Insulin? Warum wird Lukas von seinem Gehirn nicht auf die Unterzuckerung aufmerksam gemacht und vor dem drohenden Koma gewarnt?
Beide Fragen lassen sich mit einer einfachen Feststellung beantworten: Das Gehirn passt sich an. Der Verlauf einer Typ-1-Diabeteserkrankung ist häufig auch die Geschichte des Brain-Pull-Untergangs. Als Lukas das erste Mal in einen Zustand der Unterzuckerung geriet, reagierte sein Gehirn mit einer heftigen Stressantwort. Die Kortisolmenge, die bei der ersten Glukosekrise eines Menschen mit Diabetes freigesetzt wird, ist enorm. Es werden weit mehr Stresshormone ausgeschüttet als bei einem extrem aufregenden Erlebnis, wie zum Beispiel dem ersten Fallschirmsprung. Doch schon beim zweiten Versorgungsengpass mit Zucker fällt die Stressreaktion weniger heftig aus – der Brain-Pull ist im Wiederholungsfall bereits geschwächt. Für diese Abschwächung ist die exzessive Kortisolspitze maßgeblich verantwortlich. Jede weitere Unterzuckerung führt zu einer neuen Überlastung des Brain-Pulls. Jeder weitere Kortisolexzess wirkt sich auf die Flexibilität des Brain-Pulls negativ aus, er wird starr und starrer. Es ist wie bei einer Federwaage, die durch zu hohe Lasten überdehnt wird und zunehmend an Spannkraft verliert. Die Waage wird im Laufe der Zeit immer ungenauer und damit irgendwann nutzlos.
Die Überdehnung des Brain-Pulls ist also eine Schwächung in Raten. Die Insulinkompetenz (d. h. die Fähigkeit des Gehirns, die Insulinsekretion zu unterdrücken und damit die Hirnversorgung zu sichern) war ohnehin bereits verloren; jetzt verlieren sich noch weitere neuronale Kontrollmechanismen des sympathischen Nervensystems, mit deren Hilfe Energie aus den Körperreserven mobilisiert werden kann. Es gelingt nicht mehr, ausreichend Brennstoffe für das Gehirn zu bestellen, wie Glukose aus der Leber oder Laktat aus der Muskulatur. Am Ende seiner Bedeutungskrise bricht auch noch das Warnsystem des Brain-Pulls zusammen. Ein Energiemangel im Gehirn führt dann nicht mehr zu den normalerweise wahrnehmbaren Stresssignalen wie Herzklopfen, sie bleiben schlicht aus. Eine gefährliche Unterzuckerung ist jetzt kaum noch spürbar, bevor es zum Zusammenbruch kommt. Der Betroffene verfügt zwar noch über das Hungergefühl, aber es ist zu unspezifisch, um allein auf eine drohende Krise hinzudeuten. »Bin ich einfach nur hungrig oder stehe ich kurz vor der Ohnmacht?« Dies ist die Gretchenfrage, die für die Betroffenen nur schwer zu beantworten ist.
Erfolg durch Verhaltenstherapie
Lässt sich also ein Koma durch Unterzuckerung für einen
Weitere Kostenlose Bücher