Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
Fällen, den Blutzuckerwert zu senken. Beim Typ-1-Patienten wirkt sich das zugeführte Insulin so aus, dass sich der Stoffwechsel normalisiert. Die Energieversorgung des Gehirns stellt bei dieser Erkrankung – vorausgesetzt, das Stresssystem ist intakt – prinzipiell kein Problem dar, da das Gehirn Glukose auch ohne Insulin aus dem Blut ziehen kann. Die Körperspeicher bleiben dagegen ohne Insulin leer. Bei einem Menschen mit Typ-1-Diabetes, der keine Insulinspritzen bekommt, bricht also die Energieversorgung des Körpers und nicht die des Gehirns zusammen.
Und der an Typ 2 Erkrankte? Wenn wir davon ausgehen, dass sein Blutzucker erhöht ist, weil sich das Gehirn auf diese Weise ausreichend mit Glukose versorgt, fragt man sich, warum ein Arzt einen Patienten, der bereits erhöhte Insulinwerte hat, zusätzlich mit künstlichem Insulin behandelt. Die Senkung des Blutzuckers auf einen normalen Wert wird nämlich als oberstes Ziel in der Diabetes-Behandlung beider Typen angesehen – ein Therapieziel, das sich aus Jean Mayers Glukostatischer Theorie ableitet. Welche Auswirkungen hat diese Vorgehensweise? Bei Menschen mit Typ-1-Diabetes durchweg positive: Sie verfügen über eine Leistungsfähigkeit, die mit Gesunden vergleichbar ist, ihr zuvor untergewichtiger Körper erreicht Normalgewicht.
Beim Typ 2 fällt die Bilanz nicht ganz so gut aus. Der Blutzucker lässt sich zwar senken, auch die durch die veränderten kleinen Gefäße verursachten Organschäden an Augen und Nieren schreiten dadurch langsamer fort. Aber fast alle Patienten zahlen dafür einen hohen, doppelten Preis: Ihr Gehirn wird nicht mehr ausreichend versorgt (häufiger Unterzucker im Gehirn), und ihr Körperumfang nimmt weiter zu. Das künstliche Insulin zwingt die bereits überfüllten Depots dazu, noch weitere Energie aufzunehmen und in Fett umzuwandeln.
Wie beim Kortison, das der Arzt von außen zuführt, haben wir auch bei der Insulinbehandlung von Typ-2-Diabetespatienten das Problem eines zusätzlichen Impulsgebers, der das Regulationssystem massiv irritiert. Ein Vergleich soll veranschaulichen, wie sich ein derartiger Eingriff auswirkt. Einem Großvater (er steht für das Gehirn) ist es in seinem Zimmer zu warm (Energieüberschuss), und er bittet seinen Enkel (das Stresssystem), das Fensterschloss zu entriegeln (schließende Kontrolle zurückzunehmen), sodass das Fenster aufgeht (Insulin ist die Kraft, die die Fensterflügel aufschiebt), damit die warme Luft hinausströmen kann. Diese Szene entspricht der Vorgehensweise des Gehirns eines gesunden Menschen, wenn es im Hypothalamus einen Energieüberschuss feststellt und den Befehl gibt: »Mit Insulin die Speicher öffnen«, um die überschüssige Energie abfließen zu lassen. Kommt jedoch die Großmutter (der Arzt, der Insulinspritzen verordnet) und macht ohne Veranlassung des Großvaters einfach das Fenster auf, so wird der Großvater bald frieren. Genauso ergeht es dem Gehirn, wenn ein Mediziner Insulin injiziert: Das Hirn wird bald eine Glukosekrise erleiden, eine Neuroglukopenie.
Auch hier zeigt sich wieder deutlich, dass es einen entscheidenden Unterschied ausmacht, ob Blutinsulin durch einen Befehl von innen oder durch eine Gabe von außen erhöht ist: Inneres Insulin zeigt einen hohen Energiefüllstand in Gehirn und Blut an, äußeres Insulin bedroht den Energiefüllstand im Gehirn und vermindert ihn im Blut. Da dem Gehirn auf diese Weise Energie verlorengeht, gerät der Hirnstoffwechsel zunehmend in die Krise, d. h. in der Sprache der Regelungstheorie: Das System kommt »unter Last«. Diese Last macht sich dadurch bemerkbar, dass das Gehirn in seiner Versorgungskrise einerseits erhebliche Anstrengungen unternehmen muss, mehr Energie anzufordern, andererseits auch zu empfindlichen Einsparungen gezwungen wird. Die Adrenalinwerte steigen weiter an, auch in Ruhe und in der Nacht. Das belastet das bei Diabetes oft vorgeschädigte Herz- und Kreislaufsystem. Und der Extremfall tritt nachweislich immer häufiger ein, dass auch die Patienten mit Typ-2-Diabetes ins Unterzuckerkoma fallen: »Global silencing«, wie wir es vom Fall Lukas bereits kennen.
Trotz dieser prekären Folgen werden bei Patienten mit Typ-2-Diabetes in den Industrienationen seit gut drei Jahrzehnten die Blutglukosewerte »aggressiv« mit Insulin gesenkt. Den Ausdruck »aggressiv« haben die Befürworter dieser Therapieform selbst geprägt. Die Methode gilt als erste Wahl. Ein Mediziner, der eine Nichtbehandlung empfiehlt,
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