Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
im Labor mit der Gold-Standard-Clamp-Methode gemessenen, liegen bei Menschen mit Typ-2-Diabetes zweifach höher als normal. Daher werden die Blutinsulinwerte durch Korrekturfaktoren (das können der Blutzucker oder das Körpergewicht sein) geteilt. Durch diese arithmetische Korrektur erscheinen die Insulinwerte und die Insulinwirksamkeit niedrig. Befürworter der Insulintherapie haben außerdem Begriffe eingeführt wie »Betazellversagen« oder »Insulinresistenz«, welche implizieren, dass mit der Insulingabe eine Verbesserung zu erreichen sei.
Es gelang 1997 sogar, den Begriff »Nicht Insulin-abhängiger Diabetes mellitus« als offizielle Diagnose abzuschaffen, welcher sich mit der »Idee vom Insulinmangel« reibt. Denn ein Patient mit »Nicht Insulin-abhängigem Diabetes mellitus« (Typ-2-Diabetes) sah nicht ein, dass er unbedingt Insulin spritzen sollte, weil er ja im Gegensatz zum »Insulin-abhängigen Diabetes mellitus« (Typ-1-Diabetes) offenbar keinen derartigen Mangel hat. Wer einen derartigen Konstruktionsaufwand betreiben muss, um eine Therapieform zu stützen, wird an einer kritischen Debatte kaum interessiert sein. Dabei deuten die Ergebnisse der ACCORD -Studie auf einen ganz anderen Zusammenhang hin:
Was, wenn man Gewichtszunahme und erhöhten Blutzucker nicht ausschließlich in ihren negativen Auswirkungen sieht und dementsprechend behandelt? Betrachtet man einen hohen Blutzucker nicht allein als Krankheitssymptom, sondern als eine Coping-Strategie (= Bewältigungsstrategie) zur Verbesserung der Energieversorgung in einer Krisensituation, wird die Absicht des Gehirns deutlich: Es verschafft sich einen physiologischen Vorteil. Das alte Gleichgewicht, die Homöostase des Blutzuckers, verliert an Einfluss. Also wird ein neues Gleichgewicht angestrebt, um den Energiefluss zu sichern. Wie schon erwähnt, verwendet Bruce McEwen, einer der großen Pioniere der Stressforschung, für diese Suche nach einem neuen Gleichgewicht den Begriff »Allostase«. Darunter versteht er langfristige Anpassung an chronische Stressbelastungen. Allostase ist fundamental; man könnte sagen, dass sich die gesamte Stressmedizin um die Erforschung dieser Anpassungsmechanismen dreht. Dafür, dass ein erhöhter Blutzucker, erhöhter Blutdruck und Gewichtszunahme Teile dieser Strategie des Gehirns sind, sich einer neuen energetischen Balance anzupassen, hat die Stressforschung in den letzten Jahren zahlreiche Belege erbracht. Erkenntnisse, die in der Diabetesmedizin bis heute aber kaum beachtet wurden. Mit diesem Hintergrundwissen erscheint die Tatsache, dass in der ACCORD -Studie gehäufte Todesfälle unter rigoroser Blutzuckersenkung aufgetreten sind, in einem neuen Licht. Die tödlichen Herzinfarkte lassen sich als Folge eines unzulässigen Eingriffs in die »Selbstregulation« des menschlichen Organismus interpretieren.
Die ausstehende Debatte wäre möglicherweise schon vor der ACCORD -Studie geführt worden, hätte es zwingende alternative Möglichkeiten zur Behandlung gegeben. Tatsache ist, dass eine andere medikamentöse Therapieform, die sich grundsätzlich von der Insulinbehandlung unterscheidet, derzeit leider nicht zur Verfügung steht. Eine derartige neue Behandlungsform, die beispielsweise die Glukose im Blut ausreichend senkt, ohne sie dem Hirn vorzuenthalten, ist auch nicht in Aussicht.
Die zurzeit verwendeten oralen Antidiabetika (»Zuckertabletten«) wirken meist nur, solange sich die Erkrankung noch in einem frühen Stadium befindet, und stellen damit keine echte Alternative dar. Wenn sich aber die Erkenntnis durchsetzt, dass eine Brain-Pull-Störung den Beginn einer Entwicklung markiert, die zu einem Typ-2-Diabetes führen kann, ergeben sich zumindest vorbeugend durchaus neue Behandlungsansätze. Ein gestörter Brain-Pull lässt sich durch ein entsprechendes verhaltensmedizinisches Programm wieder stärken. Allerdings sollte man damit in einer ganz frühen Entwicklungsphase dieser Stoffwechselerkrankung beginnen. Denn aus meiner klinischen Erfahrung ist ein Typ-2-Diabetes nicht nur mit fortschreitender Dauer (etwa nach dreißig Jahren) immer schwieriger zu beeinflussen, die Plastizität des Gehirns wird auch nicht gerade besser. Ein Brain-Pull-Training ähnlich dem von Dan Cox entwickelten wird wohl auch in Zukunft keinen Typ-2-Diabetes komplett rückgängig machen können, aber es kann möglicherweise die Entstehung neuer Diabeteserkrankungen vermeiden helfen.
Die fachliche und öffentliche Auseinandersetzung
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