Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
wir nun einen Zeitsprung ins 21. Jahrhundert. Heute erfolgt die Diagnose einer Diabeteserkrankung nach einer Messung des Blutzuckers. Ein Wert größer oder gleich 126 Milligramm pro Deziliter Glukose im Blut, nüchtern gemessen und an einem zweiten Tag bestätigt, reicht für die Feststellung eines Diabetes mellitus aus. Alternativ lässt sich heute die Diagnose auch mit dem Langzeitblutzuckerwert stellen, der den Verzuckerungsanteil des roten Blutfarbstoffs Hämoglobin angibt. Bei positivem Befund klärt der Internist, ob ein Diabetes vom Typ 1 oder vom Typ 2 vorliegt.
Die Bezeichnung Typ 2 für die in den Industrienationen so verbreitete Diabetesform hat sich heute international durchgesetzt. Doch für lange Zeit bestimmte ein Hin und Her in der Terminologie die Diskussion, die deutlich macht, welche Probleme die Medizin in der Formulierung scharf abgegrenzter Diabetes-Krankheitsbilder in den vergangenen Jahrzehnten hatte. Allein der gemeinsam verwendete Oberbegriff »Diabetes mellitus« für diese beiden einerseits ähnlichen und dennoch grundverschiedenen Erkrankungen birgt das Risiko der Unschärfe. Bei beiden Krankheitsbildern spielen zwar das Speicherhormon Insulin sowie erhöhte Blutzuckerwerte entscheidende Rollen. Die Vorzeichen aber sind vollkommen gegensätzlich: Beim Typ-1-Diabetes kommt es zu einer dramatischen Überzuckerung des Blutes, weil der Körper mit dem Untergang der Betazellen in der Bauchspeicheldrüse die Fähigkeit verliert, Insulin zu produzieren. Energie kann nicht mehr festgehalten und gespeichert werden. Sie rauscht durch den Körper und wird ungenutzt über die Nieren wieder ausgeschieden. Typ-1-Diabetes ist also eine Energieverlust-Krankheit.
Beim zweiten Diabetestyp hingegen kann Glukose noch immer gespeichert werden. Zwar ist bei den Betroffenen ebenfalls der Blutzucker erhöht – aber nicht, weil das glukosespeichernde Hormon Insulin fehlt. Im Gegenteil: In dem Moment, in dem die Diagnose Typ-2-Diabetes gestellt wird, ist das Blutinsulin deutlich höher als normal – mit ansteigender Tendenz, das belegen die Ergebnisse einer Langzeitstudie über zehn Jahre an mehr als 10 000 Frauen und Männern. Das hohe Blutinsulin führt dazu, dass so viel Energie in den Muskel- und Fettzellen eingespeichert wird, bis diese übervoll sind. Da es jetzt zum Überschuss an Glukose im Blut kommt, wird diese über die Nieren ausgeschieden. Typ-2-Diabetes ist also genau das Gegenteil vom Typ 1: nämlich eine Energieüberfluss-Krankheit, wobei wir das Wort Überfluss wörtlich verstehen können.
Man hat Typ-2-Diabetes früher auch als Altersdiabetes bezeichnet, weil der Prozess, der zur Erkrankung führt, in der Regel langwierig ist und die Diagnose meist erst im fortgeschrittenen Alter gestellt wird. Im Gegensatz zum Typ 1 lagen die Ursachen dieser Erkrankung lange im Dunkeln. Die Erkenntnis, dass eine Brain-Pull-Inkompetenz zum Typ-2-Diabetes führt, ist noch neu und keineswegs allgemein medizinisch bekannt. Durch die Selfish-Brain-Theorie sind wir aber endlich in der Lage, die Entstehung dieser Erkrankung schlüssig zu erklären: Solange der Brain-Pull störungsfrei arbeitet, optimiert er die Energieversorgung des Körpers und des Gehirns. Evolutionär hat dieses Regulationssystem uns nicht nur eine besondere Leistungsfähigkeit ermöglicht. Es verhindert auch, dass unser Körper durch übergroße Fettreserven eingeschränkt wird. Wenn der Brain-Pull aus der Balance kommt, beginnt für den Körper eine neue Ära des Energie-Managements: Das Gehirn stellt vom Brain-Pull auf den Body-Pull um.
Süßes Blut – Hirnversorgung zum Niedrigpreis
Die Situation erinnert an die erste große Ölkrise Anfang der 1970er Jahre. Zwanzig Jahre lang war die Weltwirtschaft explosiv gewachsen. Die Energie für dieses Wachstum kam von den Ölfeldern des Nahen Ostens. Doch dann drohte der Energiefluss plötzlich zu versiegen. Die ölproduzierenden Länder hatten ihre Ware künstlich verknappt, um die Preise hochzutreiben. Unter dem Eindruck dieses Energieschocks suchten die Regierungen der Industrienationen fieberhaft nach Alternativen. Der Ausbau der Kernenergie schien damals die beste Lösung zu sein. Die Technologie war weit fortgeschritten, das Versprechen der Befürworter verlockend: Heimische Atomkraftwerke würden der Abhängigkeit von den Energielieferungen der arabischen Ölscheichs sofort entgegenwirken. Auch in Deutschland konnte die Energiewirtschaft in diesem Klima der wirtschaftlichen Bedrohung
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