Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
Augen und Nieren sind typische Anzeichen von Mikroangiopathien bei Diabetes, die im fortgeschrittenen Stadium sehr häufig auftreten und mit Blindheit oder Nierenversagen enden können. Der Grund dafür ist, dass die Strategien bei der Entsorgung des Zuckerabfalls letztlich an ihre Grenzen stoßen und versagen. Hier zeigt sich der Egoismus unseres Gehirns in seiner ganzen Konsequenz. Es wendet die Energiekrise zunächst ab und stellt die Energieversorgung für sich und den Körper sicher. Die Lasten, Kosten und Schädigungen »externalisiert« das Gehirn aber im Stil eines multinationalen Energiekonzerns – an den Rest der Körperwelt.
Der Weg zu einer Diabeteserkrankung vom Typ 2 macht deutlich, dass es zum Brain-Pull als optimale Energieversorgungsstrategie des Gehirns keine gleichwertige Alternative gibt. Wenn ich also herausfinden möchte, in welchem Stadium der Energieversorgung sich mein Gehirn befindet, ist es wichtig zu wissen, wie stark oder bereits geschwächt der Brain-Pull ist. Als wichtiger Kontrollwert für dessen Leistungsfähigkeit hat sich der Body-Mass-Index BMI erwiesen. Die Formel, die bereits 1835 von dem belgischen Mathematiker Adolphe Quételet entwickelt wurde, hat bis heute Bestand: BMI = Körpermasse in kg/(Körpergröße in m) 2 . Mit BMI -Werten von 20 bis 25 konnte er Menschen mit einer »normalen Körperstatur« erkennen. Heute wird dieser Index in der Regel dazu benutzt, den Fettanteil im Körper abzuschätzen. Und man kann mit diesem Wert in gewissen Grenzen vorhersagen, wie lange ein Mensch leben wird (ein Wert von 20 bis 25 ist optimal). Darüber beginnt das Übergewicht (Präadipositas). Bei einem Wert jenseits der 30 sprechen Mediziner von behandlungsbedürftigem Übergewicht (Adipositas). Der BMI sagt aber mehr aus als nur den Fettanteil des Körpers: Genauer betrachtet gibt der BMI das Körper-Gehirn-Energieverhältnis an. Das heißt, er ist ein Maß dafür, wie viel Energie dem Körper und wie viel dem Gehirn zugeteilt wird. Normal ist ein Körper-Gehirn-Energieverhältnis von 4 : 1. Das bedeutet, dass vier Teile des gesamten Energieumsatzes dem Körper zukommen und ein Teil dem Gehirn. Bei sehr schlanken Menschen beträgt das Verhältnis 3 : 1 (d. h., das Gehirn bekommt mehr), bei Übergewichtigen 5 : 1 (das Gehirn erhält weniger). Oberhalb bestimmter BMI -Werte steigt die Wahrscheinlichkeit, einen Typ-2-Diabetes zu entwickeln, dramatisch an.
Das Risiko, ob und wann ein Typ-2-Diabetes auftritt, ist aber auch bei gleich hohen BMI -Werten individuell verschieden. Wichtig ist die genetische Disposition des Einzelnen. Aber eben nicht nur die. So weiß man, dass zum Beispiel in Indien Diabetes in vielen Fällen bereits bei einem vergleichsweise niedrigen BMI von 26 in Erscheinung tritt. Bei Mitteleuropäern ist meist erst ein Wert über 30 kritisch. Fest steht, dass die Zahl der Menschen, die kritische BMI -Werte erreichen, ständig steigt – vor allem in den Industrienationen, aber auch in den Schwellenländern wie Brasilien oder Indonesien.
Fassen wir noch einmal zusammen: Die körperliche Entwicklung, die zu einer Typ-2-Diabeteserkrankung führt, verläuft in einer ansteigenden Kurve: Je mehr Nahrungsenergie das Gehirn im Rahmen eines Notfallplanes anfordert, desto mehr wird gegessen. Weil das Gehirn ja seine Insulinkompetenz verloren hat, ist der Insulinwert permanent erhöht. Dadurch wird Glukose in die Speicher befördert und überschüssige Energie zunächst in die wachsenden Fettdepots eingelagert. Der steigende BMI -Wert dokumentiert die Gewichtszunahme. Parallel dazu steigt auch die Blutglukosekonzentration. Sobald diese eine kritische Grenze überschreitet, wird die Glukose aus dem Blut über die Nieren ausgeschieden. An diesem Punkt wird oft ein Typ-2-Diabetes festgestellt.
Wir sehen also, dass die Regulation der Gehirnenergie nach dem »homöostatischen« Prinzip erfolgt – das Gleichgewicht der Energieversorgung muss unbedingt gewahrt bleiben. Im Gegensatz dazu verfährt die Regulation von Körpergewicht und Blutglukose zwangsläufig nach dem eingangs erwähnten Prinzip »Stabilisierung durch Veränderung«, das in der Stressforschung »allostatisches« Prinzip genannt wird: Zugunsten der Gehirnversorgung werden Schäden des Körpers in Kauf genommen.
»Aggressives« Insulin – eine Therapie mit
unerwarteter Todesfolge
Die Medizin behandelt Patienten mit Typ-2-Diabetes ganz ähnlich wie an Typ 1 Erkrankte – mit künstlichem Insulin. Das Ziel ist in beiden
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