Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
Gehirns die ganze Zeit, das Stresssystem wieder in die Ruhelage zu zwingen – vergeblich. Diese Rückstellungsversuche erfolgen durch den Einsatz des zweiten Stresshormons Kortisol. Erinnern wir uns, wie es dem Fallschirmspringer Marlon erging: Nach der Aufregung des Sprungs war es die Aufgabe des Kortisols, das Stresssystem des jungen Mannes wieder ruhigzustellen. Doch während einer Diät stößt das Dämpfungshormon an die Grenzen seiner Wirkungskraft. Es ist unter diesen Umständen nicht in der Lage, den Belastungskonflikt zu lösen, weil die Diät das innere Stoffwechselgleichgewicht empfindlich stört.
Diese Balance lässt sich mit dem Begriff »Neutralgewicht« anschaulich beschreiben. Das Neutralgewicht bezeichnet den Zustand, in dem das Gehirn optimal mit Energie versorgt ist und der Brain-Pull in Ruhelage kommt. Es wird somit zum Schlüssel der inneren Ruhe und Ausgeglichenheit. Wenn der menschliche Organismus sein Neutralgewicht hat, so erreicht er damit seine energetische und emotionale Homöostase. Das Neutralgewicht ist individuell und kann sich im Laufe des Lebens verändern. Es ist nicht zu verwechseln mit dem Normal- oder Idealgewicht, welche man für jede Körpergröße und beide Geschlechter in Tabellen nachschlagen kann. Das Neutralgewicht zu halten kann dazu führen, dass der Körper unter ästhetischen Gesichtspunkten über- oder untergewichtig ist. Ein Mensch, der sich im Neutralgewicht befindet, kann also etwas zu dick oder zu dünn sein, aber er fühlt sich dabei gar nicht so schlecht, weil sein Gehirnstoffwechsel nicht unter Stressbelastung steht und sich nicht in der Krise befindet.
Jeder Angriff auf das Neutralgewicht setzt dieses innere Gefüge unter Druck: In einer 2010 veröffentlichten Studie von der University of San Francisco begleiteten Wissenschaftler Frauen mit einem BMI von 25 bei einer Kalorienreduktionsdiät. Mit ihrem Body Mass Index waren die Probandinnen keineswegs stark übergewichtig. Sie wollten lediglich ein paar Pfunde verlieren – eine ganz durchschnittliche Schlankheitskur war also Ausgangspunkt der Studie. Dabei wurde die Kalorienzufuhr von ca. 2400 auf 1200 deutlich reduziert. Die Analyse der Blutwerte im Laufe der Diät ergab bei den Probandinnen einen starken, andauernden Anstieg von Kortisol. Das Ergebnis belegt, dass der innere Energiekonflikt in einen Dauerzustand übergeht: Der Brain-Pull des Gehirns formuliert eine ständig wiederkehrende Stressantwort – mit dem Ziel, die Energieversorgung zu erleichtern, ohne es allerdings zu erreichen. Um diese Befehlskette zu durchbrechen, wird immer mehr Kortisol freigesetzt. Doch das Stresssystem kann nicht beruhigt werden, weil fehlende Energie nicht ersetzbar ist.
So wird aus der eigentlichen Absicht der Stressbefriedung eine Strategie der unbegrenzten Eindämmung: Der Körper steht jetzt dauerhaft unter Kortisoleinfluss. Diesen Zustand, den wir unscharf ausgedrückt als Stress kennen, nennt der Forscher Bruce McEwen präziser »allostatische Last«. Sie bezeichnet die Folgen erhöhter Stressbelastungen auf den Körper. Denn dauerhaft erhöhtes Kortisol richtet schwere Schäden an – zum Beispiel am Skelett. So zeigte sich in einer Studie, bei der sich Probanden über einen Zeitraum von zwölf Monaten einer kalorienreduzierten Diät unterzogen, ein deutlicher Knochenabbau an Wirbelsäule, Hüfte und Oberschenkeln. Die Veränderungen, die Kortisol im Körper hervorruft, reichen aber noch viel weiter: So werden auch Muskeln und Collagen in der Haut unter dem Einfluss von lange erhöhtem Kortisol abgebaut. Außerdem wird das Unterhautfett abtransportiert und in Bauchfett umgewandelt. Auch der sprichwörtliche Bierbauch eines ansonsten schlanken Mannes ist oft in Wirklichkeit ein Stressbauch – verursacht von zu viel Kortisol im Blut.
Wenn Kortisol den Körper überschwemmt, muss also zuvor etwas Gravierendes vorgefallen sein. Etwas, das unser Stresssystem aus den Fugen geraten ließ. Die Stressforschung hat sich intensiv mit Situationen beschäftigt, die zu derartigen allostatischen Lasten führen können. Dazu gehören zum Beispiel:
Isolation und Trennung
Verlust oder Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes oder des sozialen Status
Hohe Anforderungen, die an den Menschen in seinem beruflichen Umfeld gestellt werden
Geringe Einflussmöglichkeiten, die der Mensch in seinem beruflichen Umfeld hat
Diese existentiell bedrohlichen oder tief in die Psyche eingreifenden Extreme kennt die Stressforschung als die
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