Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
typischen Auslöser permanent erhöhter Kortisolwerte im Körper. Es fällt auf, dass diese Ereignisse Aspekte von Kontrollverlust und Ausweglosigkeit aufweisen: Sie sind für den Betroffenen nur schwer oder gar nicht zu beeinflussen. Das erklärt, warum es in diesen Fällen so schwierig ist, das Stresssystem wieder in die Ruhelage zu versetzen.
Aufgrund der hier dargestellten Datenlage und Zusammenhänge sind Bruce McEwen und ich unlängst übereingekommen, die kalorienreduzierten Diäten als einen weiteren Zustand in die Liste der allostatischen Zustände aufzunehmen. Denn das unterversorgte Gehirn unterscheidet nicht zwischen einer Abnehmkur und einer Hungersnot. Es reagiert auf beide Krisen gleichermaßen: Das hochaktive Stresssystem ist der stumme Schrei nach Energie fürs Gehirn. Unterschiedlich ist lediglich der Ausgang des Kampfes: Bei den Soldaten in den Schützengräben verliefen die Rufe nach Nahrung ungehört. Bei einer Diät besteht fast immer die Option »essen«. Im Klartext: Bei einer Diät lassen sich Gehirn und Körper vorübergehend dahingehend beeinflussen, dass es zu Gewichtsabnahme kommt. Doch dies ist in der Regel nur eine Art Übergangszustand. Evolutionsgeschichtlich kennt der Körper solche Mangelzustände, ausgelöst durch Nahrungsknappheit. Nur wird diese Verknappung bei einer Diät künstlich herbeigeführt – das Essen ist ja da, man muss nur einkaufen gehen. Irgendwann kapitulieren die meisten Menschen vor den permanenten Energieanforderungen des Stresssystems und beginnen wieder mehr zu essen. Die Diät ist gescheitert, und im Nu stellt sich der »Jo-Jo-Effekt« ein, das Gewicht kehrt immer wieder zum Neutralgewicht zurück.
Das bringt uns der Antwort auf die Frage näher, woran und wie Diäten scheitern. Je länger die Stresslast während eines Abnehmprogramms bestehen bleibt, desto mehr häufen sich die Schäden, die Kortisol im menschlichen Organismus anrichtet. Zunehmend beschäftigt sich das Gehirn in seiner Suche nach Nahrung mit kaum noch etwas anderem. Eine neue Studie aus Quebec in Kanada belegt, dass Diätteilnehmer ab einem bestimmten Zeitpunkt fast nur noch ans Essen denken. Es ist das unterversorgte Gehirn, das ihnen diesen einen Gedanken in endlosen Variationen aufzwingt: »Jetzt iss doch endlich …« Das Duell »Wille gegen Kortisol« nähert sich seinem Höhepunkt. Der Wille bleibt dabei auf sich allein gestellt. Er kann kein neues inneres Gleichgewicht herstellen und das Neutralgewicht nicht umprogrammieren. Er kann nur versuchen, das Kortisol in Schach zu halten. Ein Unterfangen, das kaum von Erfolg gekrönt ist. Denn wenn das Dauerfeuer des Kortisols den Willen erst zermürbt hat, kommt es zu den berüchtigten Heißhungerattacken. Die Folge ist, dass wir eine Diät oder eine Nahrungsumstellung auf niedrigerem Kalorienniveau in der Regel aufgeben. Das Gehirn hat in seinem Bestreben, das Neutralgewicht wiederherzustellen, gesiegt. Und das ist gut so – weil das Gehirn jetzt endlich wieder ohne Mühe Energie bekommt und das Stresssystem wieder entlastet ist. Die erhöhten Kortisolwerte sinken wieder ab. Die zerebrale-metabolische Homöostase und die emotionale (Stresssystem-)Homöostase sind wiederhergestellt! Der Abnehmwille dagegen ist unterlegen, und mancher wird dies als persönliche Niederlage empfinden.
Was aber, wenn der Wille sich doch als stärker erweist? Wenn er Monate durchhält oder sogar noch länger?
Britta Stein ist 1,74 m groß und wiegt 72 Kilogramm. Seit fünf Jahren versucht die 40-Jährige, ihr Gewicht zu halten, indem sie bewusst weniger isst. Spricht man sie auf das Thema an, sagt sie Sätze wie: »Ich muss aufpassen, sonst nehme ich zu.« Immer wenn sie doch ein paar Pfunde zulegt, versucht sie sich zurückzuhalten und einzuschränken, bis sie ihr Wunschgewicht wieder erreicht hat. In der Psychologie nennt man Menschen wie Britta »Restrained Eater«. »Gezügelte Esser« müssen sich Mahlzeiten versagen, um nicht zuzunehmen. Mit ihrem Nahrungsverzicht bringen sie ihr Stresssystem und damit ihren Brain-Pull regelmäßig aus der Ruhelage. Würde Britta Stein ihre Abnehmbemühungen aufgeben, nähme sie so lange zu, bis ihr Brain-Pull wieder im Gleichgewicht ist. Faktisch bedeutet das bei ihrer Körpergröße wahrscheinlich eine Gewichtszunahme auf etwa 80 Kilo. Hat ihr Brain-Pull seine Ruhelage erreicht, nimmt der Körper nicht weiter zu. Britta Stein hätte ihr Neutralgewicht wieder – doch genau das möchte sie vermeiden.
Gezügelte
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