Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
die mit Gefühlen einhergehen. Diese Erfahrungen schreiben die Einstellungen des Gehirns fest und prägen den Lebensweg.
Wie das im Einzelfall funktioniert, lässt sich am Beispiel der Furcht vor Schlangen erläutern. Schlangen stellten in der Frühgeschichte der Menschheit eine ernste und alltägliche Bedrohung dar. Gegen ihr Gift gab es meist keine Hilfe. Vor allem Kinder mit ihrem unerfahrenen Stoffwechsel hatten nur geringe Chancen, einen Giftbiss zu überleben. Es ist also davon auszugehen, dass die Eltern ihren Nachwuchs vor der Gefahr, die von Schlangen ausgeht, warnten. Wenn es nun zu einer ersten überraschenden Begegnung mit dem Reptil kam, rief diese im Gehirn des Kindes eine starke Stressreaktion der Amygdala hervor. Von diesen Hirnteilen wird der Körper eingestellt – auf Kampf oder Flucht. Es ergeht der Hirnbefehl, Energie in Form von Fett freizusetzen, damit die Muskeln schnell und ausdauernd agieren können. Gleichzeitig erhöht das Gehirn seine eigene Zufuhr mit Glukose, dem Blutzucker, den es zum Verbrennen benötigt. Stress bedeutet also immer, dass sich der Energiezustand des menschlichen Organismus verändert. Angenommen, die Flucht gelingt und das Kind kommt unversehrt davon. Dann ist es sehr wahrscheinlich, dass Gehirn und Brain-Pull jetzt ihre Lektion, wie man dem Stressor Schlange erfolgreich entgehen kann, gelernt haben.
Was aber passiert, wenn Stress zum Dauerzustand wird und die freigesetzte Energie nie oder kaum von den Muskeln abgerufen wird – weil die Situation eine echte Flucht oder einen Kampf gar nicht ermöglicht? An dieser Stelle machen wir einen Riesensprung vom Steinzeitkind, das seiner ersten Schlange begegnet, zum Jugendlichen des 21. Jahrhunderts, der sich in einem tranceartigen Zustand an seiner Spielkonsole befindet. Er spielt ein »Ego-Shooter«-Kampfspiel. Das Gehirn des Spielers wird in eine virtuelle Kampfzone geführt. Den Finger am Abzug einer Waffe, bewegt sich dieser Jugendliche über ein imaginäres Schlachtfeld. Aus jeder Richtung können jederzeit Schüsse fallen, Gegner lauern hinter Häuserecken – töten oder getötet werden. Stunden vergehen, Tage vergehen, Monate – nur das Spiel ist immer gleich. Äußerlich mag der Spieler regungslos, vielleicht sogar apathisch wirken, innerlich befindet er sich hingegen in einem permanenten Stresszustand. Was Computerkrieger millionenfach erleben, sind Erfahrungen, die ein Steinzeitgehirn niemals hätte machen können. Denn Gefahr bedeutete damals entweder den eigenen Tod oder das knappe Überleben. Jedenfalls waren derartige Stresserlebnisse nur Momentaufnahmen, keine Dauerzustände. Was aber bedeutet heute der endlose Kampf an der Konsole für das emotionale und metabolische Lernen?
Eine Fallgeschichte: Dennis ist 16. Es gab eine Zeit, in der er als sportlich galt. Er war ein hoffnungsvoller Fußballspieler, der ausdauernd laufen konnte. Das ist gerade eineinhalb Jahre her, bevor er der Faszination eines virtuellen Kriegsspiels erlag. Seitdem haben das Spiel und die Gemeinschaft der Spieler die Regie über seinen Tagesablauf übernommen. Bei Online-Spielen tritt man im Internet gegen andere Spieler an. Was diese Form des Spielens besonders problematisch macht, ist die Unbegrenztheit – irgendwelche Spieler sind immer eingeloggt, und das Spiel geht auch weiter, wenn man selbst nicht am Computer sitzt. Bei vielen Teilnehmern stellt sich so schnell das Gefühl ein, etwas zu verpassen, wenn sie offline sind. Zurzeit spielt Dennis zwischen drei und fünf Stunden täglich und ist damit noch nicht einmal ein Extremfall in der Szene der Dauerspieler. Mittlerweile hat er Übergewicht. Den Sport hat er aufgegeben. Bei einem Sportwettkampf in der Schule kam es dann zu einem regelrechten Zusammenbruch. Dennis startete beim 5000-Meter-Lauf, doch seine Beine waren schwer wie Blei. Er spürte eine Wand in seinem Inneren, gegen die er anzulaufen versuchte. Diese Wand signalisierte ihm schmerzhaft: »Bis hierhin und nicht weiter.« Völlig erschöpft gab er nach 900 Metern auf.
Ein 16-Jähriger, der keine 1000 Meter mehr laufen kann – wie ist das zu erklären? Das Phänomen sportlicher Limitierung bei Jugendlichen ist so etwas wie die dunkle Seite des eng miteinander verknüpften emotionalen und metabolischen Lernens. Während Dennis sich durch die virtuellen Straßen eines Kriegsgebiets ballerte, arbeitete sein Gehirn fieberhaft an der Lösung eines internen Problems. Als Dennis das erste Mal in die Rolle des virtuellen
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