Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
mehrere Generationen hinweg weitergeben kann. Welche Gedächtnisform hier im Einzelfall wirksam wird, wissen wir allerdings noch nicht. Wie eine Narbe hinterlässt also das Trauma eine langfristige Anpassung im Stresssystem, die sich in Form eines inkompetenten Brain-Pulls manifestiert. Wer als Kind davon betroffen ist, hat als Erwachsener ein um 50 Prozent erhöhtes Risiko, übergewichtig zu werden – auch dies zeigt die Studie auf.
Zweifelsfrei festzustellen, ob die Stressbremse im Kopf schwer traumatisierter Kinder ebenfalls durch einen Methylfilm blockiert wird, ist praktisch unmöglich. Dafür wäre ein Eingriff im Gehirn erforderlich, der sich aber am lebenden Menschen nicht durchführen lässt. Meaney und seine Kollegen haben daher Suizidopfer untersucht, und zwar ganz gezielt solche, bei denen ein Kindesmissbrauch in der Lebensgeschichte dokumentiert war. Der Grund dafür: Das Risiko, dass sich Menschen das Leben nehmen, die während ihrer Kindheit Opfer von Missbrauch wurden, ist besonders hoch. Zwischen der Traumatisierung in der Kindheit und dem Suizid besteht ein direkter Zusammenhang, obwohl sich die Betroffenen oft erst Jahre oder Jahrzehnte nach den erlittenen Taten das Leben nehmen. In nahezu allen Fällen stieß Meaney auf den Methylfilm und die gestörte Stressbremse im Gehirn. Er machte auch noch die Gegenprobe und untersuchte die Gehirne von Suizidopfern, die nicht als Kind missbraucht worden waren. Bei ihnen fanden sich in deutlich weniger Fällen solche Methylanlagerungen am GR -Gen im Hippocampus.
All diese Studien belegen, dass es Abschnitte im Leben eines Menschen gibt, in denen sein Gehirn besonders empfindlich auf starke Belastungen reagiert. Diese Stressoren können ihn bereits im Mutterleib erreichen oder nach der Geburt auf ihn einwirken – mit lebenslangen Folgen. Meaney konnte zwar im Tierversuch belegen, dass es möglich ist, diese durch das Methyl verursachte Stressprogrammierung chemisch rückgängig zu machen. Doch das Mittel, das er verwendete, ist therapeutisch als Medikament wegen schwerwiegender Nebenwirkungen beim Menschen auf keinen Fall einsetzbar.
Was also ist zu tun? Der Gedanke, Frauen während der Schwangerschaft einen besonderen Schutz zukommen zu lassen, ist nicht neu. Bisher ging es aber im Wesentlichen darum, Komplikationen während der Schwangerschaft und der Geburt zu vermeiden. Dass traumatische Stresserlebnisse der werdenden Mutter einen derartigen Einfluss auf das künftige Leben ihres Kindes haben können, zwingt uns dazu, den Umgang mit dem ungeborenen Leben neu zu überdenken – auf gesellschaftlicher und auf medizinischer Ebene. An den Folgen des niederländischen Hungerwinters litten die Kinder und deren Kinder und tragen daran zum Teil noch bis heute. Und wir können nur ahnen, wie viele Kinder und Kindeskinder Vergleichbares erlebt haben und noch erleiden werden – in Darfur, auf Haiti, im Kongo, in Srebrenica oder an anderen Orten, wo die Welt aus den Fugen gerät. Humanitäre Katastrophen sind nicht mit einer neuen Regierung, mit Hilfslieferungen oder einem Friedensabkommen beendet. Ihre Folgen können sich vererben. Das gilt genauso für die unzähligen Opfer von Vernachlässigung, Kindesmissbrauch und -misshandlung in unserer Gesellschaft. Meaneys Botschaft über die Verletzlichkeit des kindlichen Gehirns an uns alle kann nur lauten: noch achtsamer und liebevoller mit dem uns anvertrauten Leben unserer Kinder umzugehen. Die Unversehrtheit der ersten Monate und besser noch Jahre ist unersetzlich.
Als in der Geburtsmedizin der Inkubator für Frühchen erfunden wurde, hielt man die Eltern vom Kind in der Wärmekammer fern – aus Angst vor Infektionen. Heute wissen wir es glücklicherweise besser. Eltern, die ihr Kind in der lebensspendenden Plexiglasbox berühren, streicheln und auf den Händen tragen, sind ein Sinnbild dafür, was für jeden Menschen unentbehrlich ist, um sicher ins Leben zu kommen: Wärme, Nahrung und das körperliche Gefühl, angenommen und geliebt zu sein. Nur so kann sich unser junges Gehirn gut entwickeln. Nur so erhalten wir ein Stresssystem, das auch in schwierigen Zeiten und in Krisen den Belastungen standhält.
Spielkonsolen und die Umprogrammierung unseres Hirnstoffwechsels
Als Kinder lernen wir, unseren Stoffwechsel möglichst anpassungs- und leistungsfähig zu gestalten. Die ersten grundlegenden Einstellungen des Brain-Pulls erfolgen im frühkindlichen Gehirn. Es lernt durch Erfahrungen, vor allem durch solche,
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