Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
-Gens. Dort hatte sich bei den Ratten ein Film aus Methyl gebildet – eine Anlagerung, die verhindert, dass das GR -Gen und damit die Stressbremse voll aktiviert werden können. Das Methyl wirkte bei den Tieren wie das verklemmte Gaspedal eines Autos: Ihr Stresssystem lief permanent hochtourig, und sie konnten nichts dagegen tun. Aber damit nicht genug. Meaney wies nach, dass dieser Methylfilm vererbt wird, von Generation F1 auf F2. Als es dem Wissenschaftler gelang, mit einer Chemikalie diese Methylschicht im Gehirn der Ratten zu entfernen, hatten die Tiere plötzlich wieder unauffällige Kortisolwerte und zeigten eine normale Stressreaktion.
Inwieweit lassen sich diese Erkenntnisse nun auf Menschen übertragen? Tatsächlich wurde auch bei Probanden, die im Zusammenhang mit der Dutch-Famine-Studie untersucht worden waren, jener Methylfilm festgestellt, und zwar an einem Genort, der für die menschliche Entwicklung und das Wachstum entscheidend ist. Und mehr noch: Auch beim Menschen wird diese hemmende Methylschicht vererbt – von den Untersuchten, die den Hungerwinter im Mutterleib erlebten (Generation F1), auf deren Kinder (Generation F2). Damit war der Beleg für eine bahnbrechende Entdeckung erbracht: Es gibt auch beim Menschen epigenetische Übertragungen auf nachfolgende Generationen, ähnlich wie Meaney sie bei Ratten beobachtet hat. Die Folgen einer solchen Übertragung spiegeln sich auch in der holländischen Studie wider: Erhöhte Risiken von Übergewicht, Typ-2-Diabetes und kognitiver Leistungsschwäche begleiten die Kinder des holländischen Hungerwinters 1944/45 – und deren Kinder.
Glücklicherweise gehören Kriege und Hungersnöte nicht zu den Erfahrungen, denen Menschen im beginnenden 21. Jahrhundert in Mitteleuropa ausgesetzt sind. Aber es gibt andere familiäre oder gesellschaftliche Stressereignisse, die ähnlich starke Auswirkungen haben können. Die Psychologin Sonja Entringer untersuchte junge Söhne, deren Mütter in der Schwangerschaft unter schwerer traumatischer Stressbelastung gelitten hatten. Die Blutwerte der heute zwanzigjährigen Männer wiesen erhöhte Insulinwerte auf (was einen verminderten Brain-Pull anzeigt), und sie entwickelten somit ein deutliches Risiko, an Übergewicht zu erkranken. Entringer identifizierte in ihren Forschungen konkrete Stressoren, die so stark sind, dass sie großen Einfluss auf das ungeborene Kind im Mutterleib haben können. Die Liste ist brisant, denn sie liest sich in großen Teilen wie eine Problemsammlung unserer Gesellschaft: Die werdenden Eltern trennen sich, der Vater erkennt seine Vaterschaft nicht an, die Mutter wird durch die Versorgung oder Erziehung eines anderen Kindes belastet, ein nahestehender Mensch erkrankt schwer oder stirbt, die Familie wird von ernsten finanziellen Sorgen bedrückt oder der Partner wird plötzlich arbeitslos. Situationen, in die jeder von uns geraten kann und die nicht nur emotional belastend sind, sondern direkten Einfluss auf unseren Stoffwechsel haben.
Doch die Liste schwerer Stressoren mit vergleichbaren Auswirkungen reicht weiter: Auch Traumata in der Kindheit haben lebenslange Folgen für das Stresssystem und den Stoffwechsel. Eine andere Studie verweist etwa auf Zusammenhänge zwischen Kindesmissbrauch und dem Risiko von Übergewicht im späteren Leben. In der Untersuchung wurde definiert, welche Formen von Missbrauch zu den beobachteten Ergebnissen führten: Das Kind wurde körperlich (sexuell) oder verbal (durch Beleidigungen, Beschimpfungen) missbraucht, es wurde Zeuge, wie zum Beispiel seine Mutter missbraucht wurde, oder es wurde selbst vernachlässigt. Solche Missbrauchserlebnisse führen dazu, dass die betroffenen Menschen nur noch eine abgeschwächte Stressantwort haben.
Wie wir bereits wissen, gibt es verschiedene Mechanismen, mit denen sich solche Ereignisse in den Programmen der Amygdala einbrennen: Erstens, dauerhafte Veränderungen an den Synapsen der Amygdala-Nervenzellen, so dass eintreffende Stressorsignale zu einer veränderten Stressreaktion führen. Oder zweitens, dauerhafte epigenetische Veränderungen im Zellkern der Amygdala-Nervenzellen, was die Balance der MR - und GR -Rezeptoren so stört, dass das Stresssystem langfristig in eine neue Ruhelage kommt. Das Gedächtnis auf der Grundlage von synaptischer Plastizität kann dabei im einzelnen Individuum die Informationen lebenslang speichern, während das Gedächtnis auf dem Boden von Genmethylierung diese »Erinnerungen« sogar über
Weitere Kostenlose Bücher