Das egoistische Gen
sind wir an die Vorstellung gewöhnt, daß die Geburt nach einem feststehenden und relativ kurzen Zeitintervall auf die Kopulation folgt. Bei uns Menschen kann ein Mann nur dann posthum der Vater eines Kindes werden, wenn er nicht länger als neun Monate tot ist (es sei denn, seine Spermien wurden in einer Samenbank tiefgefroren). Es gibt jedoch mehrere Insektengruppen, bei denen das Weibchen Sperma im Innern seines Körpers aufbewahrt, das für sein ganzes Leben reicht und das es im Laufe der Jahre auf seine Eier verteilt, um sie zu besamen, oft lange nach dem Tod seines Partners. Ein Individuum einer Art, die diese Eigenart besitzt, kann potentiell wirklich sehr sicher sein, daß es – genetisch gesehen – weiterhin auf seine Mutter setzen kann. Eine weibliche Ameise paart sich nur auf einem einzigen Hochzeitsflug zu Beginn ihres Erwachsenenlebens. Dann verliert sie ihre Flügel und paart sich nie wieder. Zugegeben, bei vielen Ameisenarten kopuliert das Weibchen auf seinem Hochzeitsflug mit mehreren Männchen. Wenn das Individuum aber einer jener Arten angehört, deren Weibchen stets monogam sind, so kann es in genetischer Hinsicht mindestens ebenso sicher auf seine Mutter setzen wie auf sich selbst. Der entscheidende Unterschied zwischen einer jungen Ameise und einem jungen Säugetier ist, daß es für die Ameise keine Bedeutung hat, ob ihr Vater tot ist oder nicht. (Höchstwahrscheinlich ist er tatsächlich tot!) Sie kann ziemlich sicher sein, daß das Sperma ihres Vaters diesen überlebt und daß ihre Mutter weiterhin Vollgeschwister von ihr selbst produzieren kann.
Wenn wir an den evolutionären Ursprüngen von Geschwisterfürsorge und Phänomenen wie den Insektensoldaten interessiert sind, sollten wir also mit besonderer Aufmerksamkeit jene Arten betrachten, deren Weibchen ihr Leben lang Sperma speichern. Im Fall von Ameisen, Bienen und Wespen besteht, wie in Kapitel 10 erörtert wird, eine genetische Besonderheit – Haplodiploidie –, die diese Arten möglicherweise prädisponiert hat, eine ausgeprägte soziale Organisation zu entwickeln.
Ich behaupte aber, daß die Haplodiploidie nicht der einzige prädisponierende Faktor ist. Die Eigenart des lebenslangen Spermaspeicherns ist möglicherweise mindestens ebenso wichtig gewesen. Durch sie kann eine Mutter unter idealen Bedingungen genetisch ebenso wertvoll und ebenso der „altruistischen“ Hilfe wert sein wie ein eineiiger Zwilling.
12 Diese Bemerkung läßt mich heute vor Scham erröten. Wie ich inzwischen weiß, haben die Sozialanthropologen nicht nur etwas über den „Onkel-Effekt“ zu sagen: Viele von ihnen haben seit Jahren über kaum etwas anderes gesprochen! Der Effekt, den ich „vorhersagte“, ist in zahlreichen Kulturen eine empirisch belegte Tatsache, die den Anthropologen seit Jahrzehnten gut bekannt ist. Als ich die spezifische These vortrug, daß „in einer Gesellschaft mit einem hohen Grad an mütterlicher Untreue Onkel mütterlicherseits selbstloser sein [sollten] als ›Väter‹, da sie mehr Veranlassung zu der Überzeugung haben, mit dem Kind verwandt zu sein“, übersah ich außerdem leider die Tatsache, daß Richard Alexander bereits denselben Vorschlag gemacht hatte (in späteren Nachdrucken der ersten Auflage dieses Buches wird darauf in einer Fußnote hingewiesen). Die Hypothese wurde von Alexander selbst und anderen getestet, wobei man quantitative Ergebnisse aus der anthropologischen Literatur verwandte – mit positivem Resultat.
7. Familienplanung
1 Wynne-Edwards wird im allgemeinen freundlicher behandelt, als es bei akademischen Häretikern oft der Fall ist. Zwar hatte er ohne jeden Zweifel unrecht, doch hält man ihm weithin zugute (obwohl meiner persönlichen Meinung nach an diesem Punkt ziemlich übertrieben wird), daß er die Leute dadurch zu einem schärferen Nachdenken über die Selektion gezwungen hat. Er selbst brachte 1978 einen großmütigen Widerruf vor, als er schrieb:
Gegenwärtig herrscht unter den theoretischen Biologen allgemeiner Konsens darüber, daß keine glaubwürdigen Modelle aufgestellt werden können, wie derlangsame Marsch der Gruppenauslese die viel raschereVerbreitung von egoistischen Genen, die Gewinne anindividueller Fitneß bringen, überholen könnte. Ich akzeptiere daher ihre Ansicht.
So großmütig das Überdenken seiner Theorie auch gewesen sein mag, er hat es leider nochmals überdacht: Sein jüngstes Buch widerruft den Widerruf.
Die Gruppenselektion, wie wir alle
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