Das egoistische Gen
hat sich paradoxerweise als ein Hindernis für die Glaubwürdigkeit seiner allgemeineren und grundlegenden Theorie erwiesen. Die Geschichte von der haplodiploiden 3/4-Verwandtschaft ist gerade noch unkompliziert genug, um für jedermann mit ein wenig Anstrengung verständlich zu sein, aber auch schon so schwierig, daß man stolz darauf ist, sie verstanden zu haben, und begierig, sie anderen weiterzuerzählen. Sie ist ein gutes „Mem“. Wenn man Hamiltons Theorie nicht durch die Lektüre seiner Publikationen, sondern durch eine Unterhaltung im Café oder Gasthaus kennenlernt, so hört man mit sehr großer Wahrscheinlichkeit von nichts anderem als von der Haplodiploidie. Heutzutage ist jedes Lehrbuch der Biologie, gleichgültig wie kurz es sich mit der Verwandtschaftsselektion befaßt, beinahe gezwungen, der „3/4-Verwandtschaft“ einen Absatz zu widmen. Ein Kollege, der heute als Kapazität für das Sozialverhalten großer Säugetiere gilt, hat mir gestanden, daß er jahrelang geglaubt hat, Hamiltons Theorie der Verwandtschaftsselektion sei die Hypothese der 3/4-Verwandtschaft und nicht mehr! All dies hat folgende Konsequenz: Sollten neu entdeckte Fakten uns einmal veranlassen, die Bedeutung dieser einen Hypothese anzuzweifeln, so könnte dies leicht als Beweis gegen die gesamte Theorie der Verwandtschaftsauslese angesehen werden. Es ist so, als schriebe ein großer Komponist eine lange und höchst originelle Symphonie, in der eine besondere Melodie, die kurz in der Mitte auftaucht, so unmittelbar mitreißend ist, daß sie zum Gassenhauer wird. Man identifiziert daraufhin die ganze Symphonie mit dieser einen Melodie, und wenn diese dann irgendwann einmal ihren Zauber verliert, glauben die Leute, daß sie die ganze Symphonie nicht mehr mögen.
Nehmen wir zum Beispiel einen ansonsten brauchbaren Artikel von Linda Gamlin über Nacktmulle, der kürzlich in der Zeitschrift New Scientist veröffentlicht wurde. Er ist ernstlich durch die Anspielung beeinträchtigt, daß Nacktmulle und Termiten in gewisser Hinsicht eine Schwierigkeit für Hamiltons These darstellen, einfach weil sie nicht haplodiploid sind! Es fällt schwer zu glauben, daß die Autorin Hamiltons klassisches Paar von Veröffentlichungen jemals auch nur gesehen hat, denn dort nimmt die Haplodiploidie von den fünfzig Seiten nicht mehr als vier in Anspruch. Sie muß sich auf Sekundärquellen verlassen haben – nicht auf Das egoistische G en, hoffe ich.
Ein weiteres aufschlußreiches Beispiel betrifft die Blattlaussoldaten, die ich in den Anmerkungen zu Kapitel 6 beschrieben habe. Wie dort erklärt ist, sollte man, da Blattläuse Klone eineiiger Mehrlinge bilden, bei ihnen mit großer Sicherheit altruistische Selbstaufopferung erwarten. Hamilton wurde dieser Zusammenhang im Jahre 1964 klar, und er machte sich nicht geringe Mühe, die peinliche Tatsache zu erklären, daß – soweit damals bekannt war – Tierklone keinerlei besondere Tendenz zu altruistischem Verhalten zeigten. Als man die Blattlaussoldaten entdeckte, hätte diese Entdeckung kaum perfekter mit Hamiltons Theorie im Einklang stehen können. Doch ironischerweise behandelt der Originalbeitrag, der jene Entdeckung verkündet, die Blattlaussoldaten, als stellten sie eine Schwierigkeit für Hamiltons Theorie dar, da Blattläuse nicht haplodiploid sind!
Bei den Termiten – die ebenfalls häufig als eine Schwierigkeit für Hamiltons Theorie angesehen werden – setzt sich die Ironie fort, denn Hamilton selbst entwickelte im Jahre 1972 eine der genialsten Theorien darüber, warum diese Tiere zum sozialen Leben übergingen, eine Theorie, die man als intelligente Analogie zur Haplodiploidie-Hypothese ansehen kann. Diese sogenannte Theorie der zyklischen Inzucht wird gewöhnlich S. Bartz zugeschrieben, der sie sieben Jahre nach Hamiltons Originalveröffentlichung entwickelte. Typischerweise vergaß Hamilton selbst, daß ihm die „Bartzsche Theorie“ zuerst eingefallen war, und ich mußte ihm erst seinen eigenen Beitrag unter die Nase halten, damit er es endlich glaubte!
Doch lassen wir die Frage der Priorität beiseite; die Theorie selbst ist so interessant, daß ich bedaure, sie nicht in der ersten Auflage erörtert zu haben. Ich werde diese Unterlassung jetzt korrigieren.
Ich sagte, die Theorie sei eine kluge Analogie zur Haplodiploidie-Hypothese. Damit meinte ich folgendes. Vom Standpunkt der sozialen Evolution her gesehen ist das wesentliche Merkmal haplodiploider Tiere, daß ein Individuum
Weitere Kostenlose Bücher