Das egoistische Gen
Pflanzenfressern wäre jedes neue Gen, das seinen Besitzer mit scharfen Fleischfresserzähnen ausstattete, nicht sehr erfolgreich. Und zwar nicht, weil Fleischfressen allgemein eine schlechte Eigenschaft ist, sondern weil man nicht effizient Fleisch verzehren kann, wenn man nicht außerdem die richtige Art von Verdauungsapparat und all die anderen Eigenschaften besitzt, die für eine fleischfressende Lebensweise nötig sind. Gene für scharfe Fleischfresserzähne sind nicht an sich schlechte Gene. Sie sind schlechte Gene lediglich in einem Genpool, der von Genen für Pflanzenfressereigenschaften beherrscht wird.
Dies ist ein subtiler, komplizierter Gedanke. Kompliziert deshalb, weil die „Umwelt“ eines Gens überwiegend aus anderen Genen besteht, von denen jedes selbst wiederum wegen seiner Fähigkeit selektiert worden ist, mit seiner Umwelt von anderen Genen zusammenzuarbeiten. Zwar gibt es ein Analogon zu diesem schwierigen Gegenstand, aber es stammt nicht aus der tagtäglichen Erfahrung. Es handelt sich um die menschliche „Spieltheorie“, die wir in Kapitel 5 im Zusammenhang mit aggressiven Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Tieren einführen werden. Ich verschiebe daher die weitere Erörterung dieses Punktes auf das Ende von Kapitel 5 und kehre zur Hauptaussage dieses Kapitels zurück. Das ist der Gedanke, daß man als die Grundeinheit der natürlichen Selektion nicht die Art, auch nicht die Population und noch nicht einmal das Individuum betrachten sollte, sondern eine bestimmte kleine Einheit genetischen Materials, der man aus Gründen der Zweckmäßigkeit den Namen Gen gibt. Dieser Gedankengang basiert, wie schon früher dargestellt, auf der Annahme, daß Gene potentiell unsterblich sind, Körper und alle anderen höheren Einheiten dagegen vergänglich. Die Annahme beruht ihrerseits auf zwei Tatsachen: zum einen auf der Existenz der sexuellen Fortpflanzung und des Crossing-Over und zum anderen auf der Sterblichkeit der Individuen.
Diese Tatsachen sind unleugbar wahr. Doch das hindert uns nicht zu fragen, warum sie wahr sind. Warum praktizieren wir und die Mehrheit der anderen Überlebensmaschinen sexuelle Fortpflanzung? Warum betreiben unsere Chromosomen Crossing-Over? Und warum leben wir nicht ewig?
Die Antwort auf die Frage, warum wir sterben, wenn wir alt geworden sind, ist kompliziert, und die Einzelheiten gehen über den Rahmen dieses Buches hinaus. Neben spezifischen Ursachen sind auch einige allgemeinere Gründe vorgebracht worden. Eine Theorie beispielsweise besagt, daß Altersschwäche eine Anhäufung schädlicher Kopierfehler und anderer Arten von Genschäden ist, die im Laufe des Lebens auftreten. Eine andere, von Sir Peter Medawar stammende Theorie ist ein gutes Beispiel für eine Betrachtung der Evolution im Sinne der Genselektion. 4 Medawar verwirft zunächst herkömmliche Argumente, wie etwa folgendes: „Der Tod alter Individuen ist ein Akt von Altruismus gegenüber dem Rest der Art, weil durch ihr Weiterleben, nachdem sie für die Fortpflanzung zu schwach geworden sind, die Welt nur sinnlos vollgestopft würde.“ Wie Medawar zeigt, ist dies ein Zirkelschluß, der gerade das voraussetzt, was zu beweisen er sich vorgenommen hat, nämlich daß alte Tiere zu schwach zur Fortpflanzung sind.
Es ist darüber hinaus eine unkritische Art von Erklärung auf der Grundlage der Gruppen- oder Artselektion, wenngleich es möglich wäre, diesen Teil etwas konventioneller umzuformulieren. Medawars eigene Theorie besitzt eine wunderschöne Logik. Wir können sie folgendermaßen rekonstruieren.
Wir haben bereits die Frage gestellt, welche Attribute alle „guten“ Gene haben müssen, und kamen zu dem Schluß, daß Eigennutz eines von ihnen ist. Eine weitere allgemeine Eigenschaft, über die erfolgreiche Gene verfügen werden, ist die Tendenz, den Tod ihrer Überlebensmaschinen zumindest bis nach der Reproduktion hinauszuschieben. Zweifellos sind einige unserer Vettern oder Großonkel im Kindesalter gestorben, aber nicht ein einziger unserer Vorfahren starb so früh.
Vorfahren sterben einfach nicht jung!
Ein Gen, das den Tod seines Besitzers herbeiführt, bezeichnet man als letales Gen. Ein semiletales Gen hat einen schwächenden Einfluß, der dazu führt, daß die Wahrscheinlichkeit des Todes aus anderen Gründen zunimmt. Jedes Gen übt seinen größten Einfluß auf den Körper in einem speziellen Lebensstadium aus, und letale und semiletale Gene bilden keine Ausnahme. Die meisten Gene
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