Das egoistische Gen
oder Verwandtschaftsselektion, um diese Art der natürlichen Auslese von der Gruppenselektion (der unterschiedlichen Überlebensrate in verschiedenen Gruppen) und der Individualselektion (der unterschiedlichen Überlebensdauer von Individuen) zu unterscheiden. Die Familienselektion erklärt den innerfamiliären Altruismus; je näher die Verwandtschaft, desto stärker die Auslese. Es ist nichts gegen den Ausdruck einzuwenden; doch bedauerlicherweise wird man ihn vielleicht aufgeben müssen, da er kürzlich grob mißbraucht wurde, was in den kommenden Jahren vermutlich Unklarheit und Verwirrung unter den Biologen stiften wird. E. O. Wilson definiert in seinem ansonsten bewundernswerten Buch Sociobiology: The New Synthesis die Familienselektion als einen Sonderfall der Gruppenselektion. Er stellt ein Diagramm auf, aus dem deutlich hervorgeht, daß er sie zwischen der „Individualselektion“ und der „Gruppenselektion“ im konventionellen Sinne – in dem Sinne also, wie ich den Begriff in Kapitel 1 benutzt habe – ansiedelt. Nun bedeutet Gruppenselektion – sogar nach Wilsons eigener Definition – die unterschiedliche Überlebensrate in Gruppen von Individuen. Zugegeben, in einem gewissen Sinne kann man sagen, daß eine Familie eine besondere Art von Gruppe ist. Doch der Kern von Hamiltons Argumentation ist gerade der, daß die Trennung zwischen Familie und Nicht-Familie nicht eindeutig ist, sondern eine Frage der mathematischen Wahrscheinlichkeit. Hamiltons Theorie besagt nicht, daß Tiere sich allen „Familienangehörigen“ gegenüber uneigennützig verhalten und allen anderen Individuen gegenüber eigennützig. Zwischen Familie und Nicht-Familie lassen sich keine genauen Grenzen ziehen. Wir brauchen nicht zu entscheiden, ob beispielsweise Vettern zweiten Grades als zur Familie gehörig angesehen werden sollen oder nicht: Wir erwarten einfach, daß die Wahrscheinlichkeit, Altruismus zu erfahren, für Vettern zweiten Grades 1/16 so groß ist wie für Kinder oder Geschwister. Familienselektion ist ganz entschieden kein Spezialfall der Gruppenselektion. 4 Sie ist eine besondere Folge der Genselektion.
Wilsons Definition der Familienselektion hat einen sogar noch schwerwiegenderen Mangel. Sie schließt bewußt die Nachkommen aus: Diese zählen nicht als Verwandte!5 Nun weiß Wilson natürlich sehr genau, daß Kinder mit ihren Eltern verwandt sind, aber er zieht es vor, die Theorie der Familienselektion nicht zur Erklärung der selbstlosen Sorge von Eltern für ihre Kinder heranzuziehen. Selbstverständlich hat er das Recht, ein Wort zu definieren, wie immer es ihm gefällt, aber dies ist eine höchst verwirrende Definition, und ich hoffe, daß er sie in späteren Auflagen seines zu Recht einflußreichen Buches ändern wird. Genetisch gesehen entwickeln sich Brutpflege und Bruder-Schwester-Altruismus aus genau demselben Grund: In beiden Fällen besteht eine große Wahrscheinlichkeit, daß das altruistische Gen im Körper des Nutznießers vorhanden ist.
Ich bitte den Leser um Nachsicht dafür, daß ich hier ein wenig ausfällig geworden bin, und beeile mich, zu unserem Hauptthema zurückzukehren. Bisher habe ich etwas zu stark vereinfacht, und es ist nun an der Zeit, einige Einschränkungen vorzunehmen. Ich habe mit einfachen Worten von selbstmörderischen Genen für die Lebensrettung einer bestimmten Anzahl von Verwandten mit genau bekanntem Verwandtschaftsgrad gesprochen. Natürlich kann man im wirklichen Leben nicht erwarten, daß Tiere zählen, wie viele Verwandte sie gerade retten, und ebensowenig kann man erwarten, daß sie im Kopf Hamiltons Rechnungen durchführen, selbst wenn sie genau feststellen könnten, wer ihre Geschwister und Vettern sind. In der Realität müssen sicherer Selbstmord und „absolutes“ Retten von Leben durch die statistischen Sterberisiken des Altruisten und der zu rettenden Individuen ersetzt werden. Selbst bei einem Vetter dritten Grades mag es sich lohnen, ihn zu retten, wenn das Risiko für mich gering ist. Andererseits werden sowohl ich als auch der Verwandte, den zu retten ich vorhabe, eines Tages sowieso sterben. Jedes Individuum besitzt eine „Lebenserwartung“, die ein Versicherungsstatistiker mit einer gewissen Irrtumswahrscheinlichkeit berechnen könnte. Wenn man das Leben eines Verwandten rettet, der aus Altersgründen sowieso bald sterben wird, so hat dies weniger Einfluß auf den zukünftigen Genpool, als wenn man einen ebenso nahen Verwandten rettet,
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