Das Einhornmädchen Vom Anderen Stern
konnte und sich einen Hieb des langen, flexiblen Rohrstocks einfing, den Siri Teku in seiner anderen Hand hielt. Die anderen Kinder waren nicht so dumm, wegen einer derartigen Kleinigkeit wie kaltem Wasser zu weinen, oder zu lange zu brauchen, sich aufzurappeln. Aber Chiura war neu, die einzige Neue, die ihre Arbeitskolonne von den Zugängen der letzten Woche abbekommen hatte. Die anderen hatten gemurrt, als Siri Teku sie in ihre Baracke geschubst hatte.
»Wie soll’n wir unsere Quote mit Säuglingen in unserer Kolonne aufrechterhalt’n?« wollte Khetala wissen.
Khetala, zwei Jahre älter als Jana, mit breiten Schultern und schwarzen Augenbrauen, war die inoffizielle Anführerin ihrer Kolonne. Sie hielt den Rest der Kinder mit Zwicken, Klapsen und Drohungen, sie bei Siri Teku zu verpetzen, bei der Stange.
Aber sie sorgte auch dafür, daß ihre Förderkarren gefüllt und die Karrenschlepper in Bewegung blieben, so daß sie am Ende der meisten Schichten die volle Quote auf die Waage brachten.
Das bedeutete Abendessen. Kolonnen, die sich ihr Abendessen nicht verdienten, machten es nicht lange; die Kinder wurden zu schnell müde, dann konnten sie ihre Quote nicht erfüllen, sie begannen krank zu werden, recht bald verschwanden die Kranken, und die nur Schwachen wurden an andere Kolonnen verkauft. Oder Schlimmeres, behauptete Kheti geheimnisvoll, aber Jana wußte nicht so recht, was schlimmer sein konnte, als in einer Kolonne Karrenschlepper zu sein.
»Sie ist zu klein, um Untertage zu gehen«, begehrte Jana auf.
Chiuras nackte Beine waren noch mit Babyspeck gepolstert; ihr rundes, volles Gesicht war zu Jana und Khetala emporgereckt, als ob sie erwartete, daß sie sie auf den Arm hochnehmen würden oder etwas dergleichen. Sie würde jedoch bald genug lernen, daß in Anyag keine Zeit dafür war, mit Babys zu spielen.
»Keine Widerworte!« Siri Tekus Rohrstock pfiff gegen die Hinterseiten von Janas Beinen. Sie sprang nicht, also prügelte er sie noch ein paarmal, bis ihr die Tränen in den Augen standen. »Sie wird nicht Untertage gehen. Noch nicht, jedenfalls. Sie kann Ganga und Laxmi sortieren helfen.«
Jana und Khetala blickten einander an. Sie brauchten einen weiteren Sortierer. Siri Teku hatte Najeem gleich nach dem Wecken vor ein paar Tagen fortgenommen, als er Najeems Morgenhusten bemerkt hatte. Aber wie sollten sie einem Baby, das nicht älter sein konnte als vier, vielleicht nur drei, beibringen, Erz zu sortieren?
»Wenn sie essen will, wird sie lernen«, verkündete Siri Teku.
»Ihr werdet es ihr beibringen.« Er verließ die Baracke, um ihr kärgliches Morgenmahl zu holen.
Jetzt kniete Jana neben Chiura, tauchte einen Zipfel ihres eigenen Kameez in den Wassereimer und wischte das Gesicht des Kindes sauber. Sie hatte in der Nacht wieder geweint, da waren eingetrocknete Tränen und Rotz um ihre Oberlippe herum. Ein blauer Fleck begann sich auf ihrer Wange zu zeigen.
»Wer hat dich geschlagen, Chiura?«
Chiura gab keine Antwort, aber sie warf einen Blick zu Laxmi und zurück, einen raschen, pfeilartigen, verstohlenen Blick, den sie in dieser ersten Woche in Anyag gelernt hatte.
Jana starrte Laxmi finster an.
»Die Göre hat mich wach gehalten, mit ihrem Schniefen«, rechtfertigte sich Laxmi.
»Wir haben anfangs alle geweint«, erwiderte Jana. »Schlag sie noch einmal, Laxmi, und ich breche dir den Arm. Dann kannst du zusehen, wie lange Siri Teku dich in der Kolonne behält, wenn du nicht arbeiten kannst!« Sie wischte Chiuras Gesicht so sanft sie konnte ab und fuhr mit ihren Fingern durch das lockig dunkle Haar, versuchte ein paar Verschlingungen aus den verfilzten Löckchen zu kämmen.
»Du vergeudest deine Zeit«, meinte Laxmi. »Sie wird geschoren wer’n müssen, wie der Rest von uns, sonst kriegt sie Läuse. Ich weißnich, warum Siri Teku das nochnich gemacht hat.«
»Du meinst, es gibt etwas, was du nicht weißt?« spottete Jana. »Un’ dabei dachte ich, du bist der Göttliche Brunnen der Weisheit, nach Anyag herniedergekommen, um uns zu unterweisen und alle zu retten.«
Siri Teku trat die Tür auf und setzte eine runde Platte mit Bohnenbrei knapp ins Innere der Baracke. Daneben ließ er einen Stapel Brotfladen in den Dreck fallen, so daß die unteren ganz sandig sein würden. Er behauptete, das würde die Kinder lehren, sich ihr Essen schnell zu schnappen und keine Zeit zu vergeuden, aber Jana schätzte, es war bloße Bosheit. Sie hatte noch nie jemanden gesehen, der nicht hungrig genug
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