Das einsame Herz
unser Leben nicht erträumen – wir müssen es entdecken und erobern. Immer.
Dein Willi Bendler.«
Und ganz am Rande stand, eiligst hingeworfen, ein Satz, der so voll Willi Bendler war, daß Otto Heinrich trotz der Bestürzung seines Herzens lächeln mußte:
»Dem Prinzipal gib als meinen letzten Gruß das schöne Drama unseres Goethe ›Götz von Berlichingen‹. Er wird die Stelle kennen, die ich ihm zum Abschied sage – zum Gurgeln hinterher empfehle ich dann Salbeitee …«
Allein in einer schmalen Kammer unter klappernden Ziegeln, im Hause ein Mann, der einen haßte mit aller Glut und Inbrunst, die in den Hirnen aufgescheuchter Eremiten spukt, ein Mädchen, das man liebt und küßt und das auf ihrer Seele noch den Glanz der Unschuld trägt und das so weit ist, unerreichbar, sternenhaft nur wünschenswert, weil dieses Leben Schranken setzt und die Vernunft in Hohn verwandelt. O wie grausam, wie ekelhaft, wie sinnlos ist doch das Leben …
Otto Heinrich Kummer stöhnte zwischen den Händen, mit denen er seinen Kopf hielt. Er ahnte plötzlich, wie nahe der Wahnsinn bei der Wahrheit liegt. Er zitterte bei dem Gedanken, zu leben, um stündlich, von Minute zu Minute, im Ticken des Sekundenzeigers, diesem abscheulichen, erbarmungslosen, perversen Ticken der Uhr, sich dem Grabe zu nähern und am Ende des Wanderns zu sehen: das Leben war schön, aber jetzt, wo der Sprung ins Dunkel, ins ewige Vergehen, in das Ausgelöschtsein beginnt, sinnlos in seiner Hast und seinen Idealen, denn was sind 60 oder 70 oder 80 Jahre, wenn das Dunkel kommt und kein Erinnern, kein Beschauen seines Lebens?! Warum sich quälen, wenn der Lohn der Qual das Nichts ist?
Otto Heinrich Kummer bedeckte die Augen mit den Händen und warf sich auf das Bett des Freundes, das Gesicht in die Decken gepreßt. So lag er eine lange Zeit, bis er sich mühsam aufrichtete, den Brief faltete und an das kleine Lukenfenster trat.
»Man könnte sich vom Dache in den Garten fallen lassen«, dachte er schaudernd und wandte sich ab, wusch sich, kleidete sich an, richtete das Bett, lüftete das Zimmer, alles mit seelenlosen, mechanischen Griffen. Dann steckte er den Brief Bendlers in die Rocktasche, ging die steile, knarrende Treppe hinunter, öffnete die Tür zum Vorderhaus, ging den teppichbelegten Flur entlang, blickte auf halbem Wege in den breiten Trumeau-Spiegel, neben dem zu beiden Seiten Jagdtrophäen verstaubten, und zögerte erst vor der Tür des Wohnzimmers des Prinzipals.
Ein leichter Schritt auf dem Teppich ließ ihn herumfahren.
Trudel schlüpfte aus der Küche, gab ihm einen schnellen Kuß und flüsterte mit einem Blick auf die Zimmertür:
»Der Vater ist wütend! Bendler hat den Laden nicht aufgeschlossen und die Decken vom Schaufenster genommen. Die Gesellen standen vor der Tür und konnten nicht herein. Man dachte in der Stadt schon, es sei etwas geschehen. Und auch du warst nicht da und kommst erst jetzt! Der Vater schiebt die Schuld dir zu: du seiest als Provisor sein Stellvertreter. Er wird schimpfen.« Und plötzlich zuckte die Angst durch ihren Blick. »Denk an gestern nacht, Liebster. Nimm es dem Vater nicht übel. Schweige, ertrage es … es geht vorüber. Denk an uns. Du weißt ja, was mit Vater ist … nicht wahr … du denkst daran?«
Otto Heinrich würgte es in der Kehle. Er nickte, strich ihr über die blonden Flechten, knickte den Zeigefinger und klopfte hart an die Tür.
Ein lautes, herrisches, zorniges »Herein!« tönte durch das Holz. Schnell verschwand Trudel in der Küche.
Mit einem Ruck öffnete Otto Heinrich die Tür und trat ein.
Am Tisch saß zornrot der Prinzipal und hob die Hand.
»Herr Kummer … ich …«
Doch eine Armbewegung Kummers ließ ihn schweigen. Stumm sahen sich die Männer an. Dann sagte Otto Heinrich:
»Willi Bendler ist heute nacht geflüchtet – in die Freiheit!«
Dann drehte er sich brüsk um und verließ den Raum.
Starr sah ihm der Apotheker nach, ungläubig, erschreckt, sprachlos.
Und er starrte noch immer auf die geschlossene Tür, als unten im Laden das Leben begann.
2
Kurz vor Weihnachten, es mag Freitag, der 12. Dezember 1834 gewesen sein, brachte der Postmeistergeselle von Frankenberg einen versiegelten Brief, der mit der Abendpost gekommen war, in das Haus der Apotheker und wurde von dem seit der Flucht Bendlers merklich in sich gekehrten Knackfuß in die Bodenkammer Otto Heinrichs verwiesen.
»Ein Brief für den Herrn Provisor«, sagte der Geselle, als er ins Zimmer trat und
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