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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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daß auch die älteren Kinder anwesend waren: Raymond, Glenn und Anita. Anita trug ein Kleid, immer wieder zupfte sie am Rocksaum und fühlte sich offenbar überhaupt nicht wohl in ihrer Haut. Glenn und Raymond tuschelten miteinander. Maren Kalsvik ermahnte sie, und sie setzten sich gerade hin.
    Es gab keine normale Kanzel. Die Pastorin mit ihrem blonden, respektlosen Pferdeschwanz kehrte den Anwesenden den Rücken und richtete ihre Gebete an den im wahrsten Sinne des Wortes festgenagelten Christus. Hanne Wilhelmsen merkte, daß ihre Beine müde wurden, und deshalb schlich sie sich zur hintersten Bank und setzte sich gleich an den Mittelgang. Neben ihr saß eine ältere Dame in Heilsarmeeuniform, die ehrlich verzweifelt wirkte. Sie schluchzte und sang und brauchte gar kein Gesangbuch.
    Auf der anderen Seite des Mittelganges saß der Liebhaber.
    Oder wie man ihn nun nennen sollte. Hanne staunte darüber, daß er gekommen war, und sie fragte sich einen Moment lang, ob sie ihn vielleicht verwechselte. Sie hatte ihn bei dem Verhör, das Billy T. geführt hatte, nur kurz gesehen. Aber er war es. Sie war sich fast sicher. Er hielt sichtlich Distanz zu den Umsitzenden.
    Hanne hatte ihn gerade erst entdeckt. Vielleicht hatte er sich eben erst hereingeschlichen. Es war schwer, einen genaueren 167
    Eindruck von ihm zu bekommen, ohne sich zu weit vor oder zur Seite zu beugen, und das hätte doch sehr unpassend gewirkt, zumal die Pastorin nun mit einer Predigt begonnen hatte, in der Agnes Vestavik als ein Zwischending zwischen Mutter Theresa und Florence Nightingale dargestellt wurde. Die Heilsarmistin nickte und schluchzte bei jedem Wort und stimmte der Pastorin offenbar darin zu, daß es Gottes Wille sei, das kleine rothaarige Mädchen, das gerade durch den Mittelgang lief, mutterlos aufwachsen zu lassen.
    Endlich war die Pastorin fertig. Der eine Junge, sicher der ältere, erhob sich und trat mit gesenktem Blick neben den Sarg seiner Mutter. In der Hand hielt er eine Rose, die aus Wassermangel oder vielleicht auch aus Respekt vor der Toten bereits den Kopf hängen ließ. Er drehte sich am
    Mikrophonständer demonstrativ zur Trauergemeinde um und schaffte es auf wundersame Weise, sich durch seine Rede hindurchzustottern. Diese Rede war seltsam, ungereimt und voller Phrasen, die nicht in den Mund eines Neunzehnjährigen paßten. Aber es war der letzte Gruß eines Sohnes an seine Mutter, und deshalb war Hanne davon gerührt. Schließlich legte der Junge seine Rose auf den Sargdeckel, dann drehte er sich nach kurzem Schweigen wieder um und kehrte an seinen Platz zurück. Sein Vater umarmte ihn, ehe er sich wieder setzte.
    Dann trat die ganze Familie neben die Tür. Der Vater hatte Amanda auf dem Arm, und das Wissen, daß sie bald nach Hause gehen würden, schien die Kleine zu beruhigen. Einer nach dem anderen gingen die Trauergäste an ihnen vorbei. Warum sie wohl so verlegen waren? Lag es am Tod an sich, daß sie den Hinterbliebenen nicht in die Augen schauen mochten, oder lag es daran, daß es sich für eine Mutter mit kleinen Kindern einfach nicht gehört, ermordet zu werden? Hanne fühlte sich elend, und sie versuchte, zu der guten Stimmung
    zurückzufinden, in der sie gewesen war, bevor die Pastorin mit ihrem Unsinn angefangen hatte, bevor alle zu Nahkontakt mit 168
    dem gezwungen worden waren, dem sie auf den hinteren Bänken der Kapelle so elegant ausgewichen waren.
    Fast alle hatten die Kapelle inzwischen verlassen, nur Maren Kalsvik und die anderen aus dem Kinderheim standen noch am Ausgang. Hanne ging zu ihnen hinüber und legte Maren Kalsvik eine Hand auf die Schulter. Sie fuhr dermaßen zusammen, daß Hannes Hand regelrecht weggeschleudert wurde. Maren fuhr herum, mit der Hand auf dem Herzen und aufgerissenem Mund.
    »Hergott, haben Sie mich erschreckt«, sagte sie ein wenig zu laut und wand sich dann vor Verlegenheit, weil sie im Haus des Herrn Sein Zweites Gebot verletzt hatte.
    »Tut mir leid«, murmelte Hanne. »Können Sie draußen auf mich warten? Ich würde gern kurz mit Ihnen sprechen.«
    Maren Kalsvik wirkte nicht sehr begeistert, aber sie nickte kurz, legte den Arm um Anita und ging zur trauernden Familie hinaus. Sie drückte den Witwer lange und herzlich an sich und küßte Amanda auf die Wange. Die beiden Jungen wichen zurück, und das respektierte sie und reichte ihnen nur die Hand.
    Als Hanne auf die Treppe trat, sah sie, daß der Liebhaber gerade in einen silbergrauen Mercedes mit

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