Das einzige Kind
Wagen.«
»Jaja«, Billy T. grinste. »Sie haben also Ihren Führerschein verloren. Und das haben Sie gerade erst entdeckt, nehme ich an.«
»Den braucht man schließlich nicht jeden Tag. Ich weiß nicht einmal mehr, wann ich ihn zuletzt gesehen habe. Sonst habe ich ihn immer in der Brieftasche.«
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Als ob das irgendeinen Beweis darstellte, zog er noch einmal seine Brieftasche hervor, klappte sie auf fast obszöne Weise auseinander und zeigte auf ein Fach.
»Hier!«
Billy T. würdigte ihn keines Blickes.
Er setzte zu einem zweistündigen Verhör an, das so unangenehm wurde, daß Hasle schließlich mit Schmerzensgeld drohte.
»Ja, das ist eine gute Idee, Hasle. Verklagen Sie uns. Das ist ja schon richtig zum Volkssport geworden. Aber beeilen Sie sich, denn ehe Sie sich’s versehen, wandern Sie bestimmt hinter schwedische Gardinen.«
Das war unprofessionell und blödsinnig. Billy T. hätte sich die Zunge abbeißen können. Aber in diesen zwei Stunden war er der Antwort auf die Frage, wer Agnes Vestavik umgebracht hatte, auch nicht einen Schritt näher gekommen.
Hasle wurde entlassen. In der ganzen westlichen Welt gab es keinen Juristen, der ihn auch nur für vierundzwanzig Stunden festgenommen hätte.
Dem Mann fehlte ein Führerschein. Er wußte nichts über Agnes und die Schecks. Er glaubte, die Unterschrift auf den Schecks zu erkennen, konnte aber auf zwei Unterschiede zwischen seiner und der seiner Ansicht nach gefälschten Signatur verweisen. Und darauf beharrte er. Also mußten sie ihn laufenlassen.
Als Billy T. das Haustelefon fast massakriert und Hanne Wilhelmsen dennoch nicht gefunden hatte, war der Tag restlos versaut für ihn.
Die Kapelle war mehr als nur halb voll, und die meisten Anwesenden saßen in andächtigem Schweigen da. Die meisten hatten sich sehr weit nach hinten gesetzt, so als wollten sie ein 165
wenig auf Distanz zu den tragischen Umständen gehen, unter denen es zum Tod der Hauptperson gekommen war. In der ersten Reihe saßen Agnes Vestaviks Mann, ihre Kinder und vier weitere Personen. Hanne Wilhelmsen hielt sie für nahe Verwandte. Die beiden halbwüchsigen Söhne trugen neue Anzüge, die ihnen unbequem zu sein schienen. Die kleine Tochter fand das Stillsitzen schwierig und riß sich schließlich vom Schoß ihres Vaters los. Sie stand schon vor dem weißen, mit Blumen geschmückten Sarg, als ihr ältester Bruder sie packte; unter lautem Protest, der von den kahlen Wänden widerhallte, ließ sie sich von ihm auf die Bank zurückziehen.
Hinter der Bank der Angehörigen folgten fünf leere Reihen.
Dahinter saßen vereinzelte Trauergäste mit gesenktem Kopf, und erst die hintersten Reihen waren fast voll besetzt. Ein Küster versuchte leise, einige zum Aufrücken zu überreden, wurde aber flüsternd und kopfschüttelnd abgewiesen.
Hanne Wilhelmsen blieb neben der Tür stehen, unter einer Art Empore, auf der sie die Orgel vermutete. Das längliche graue Gesicht des Küsters schien wie geschaffen für sein Amt. Er versuchte auch bei ihr sein Glück. Wortlos winkte sie ab.
Die Querwand hatte kein Altarbild, sondern eine riesige Montage, die so modern war, daß Hanne erst nach einer Weile deuten konnte, daß Jesu Auferstehung symbolisiert werden sollte. Ein kahles, schlichtes Kreuz stand vor dem riesigen Bild, ein mittelgroßer Tisch war mit einer weißen Decke und einer riesigen Kerze in einem Silberleuchter geschmückt. Hanne Wilhelmsen war seit Ewigkeiten nicht mehr in der Nähe eines Gotteshauses gewesen, und sie war sich über ihre Empfindungen nicht so recht im klaren. Das andächtige Schweigen, die mächtige Christusfigur, die sich ihrem himmlischen Vater entgegenstreckte, der Sarg mit den Blumen, die Kleine, die versuchte, sich aus der ganzen Situation loszureißen, und die eigentlich ein glückliches Kind war, die schwarz und grau 166
gekleideten Menschen; das alles zeigte eine Art Ehrfurcht vor dem Tod.
Nun betrat die Pastorin weit vorn durch eine Seitentür die Kapelle. Hanne ging jedenfalls davon aus, daß es sich um eine Pastorin handelte, auch wenn sie einen weißen Talar und einen langen, breiten und farbenfrohen Schal trug, der ihr bis über die Knie reichte. Sie wußte wirklich nicht, wann sie zuletzt einen Geistlichen in voller Montur gesehen hatte. Es war sicher lange her, sie erinnerte sich jedenfalls vage an einen schwarz gekleideten alten Mann mit Halskrause.
Die meisten Angestellten des Kinderheims waren gekommen.
Hanne erkannte einige, und sie sah,
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