Das einzige Kind
Kaffeetasse zu verstecken. Er rückte näher an Olav heran, so als habe der Junge ihm irgendeinen Schutz zu bieten. Als der Junge langsam aufstand, den Polizisten den Rücken kehrte und verschwinden wollte, packte der Alte ihn am Arm und flüsterte verzweifelt: »Nicht weggehen, Junge. Nicht von mir weggehen!«
Dafür, daß er so klein und mager war, hatte er starke Hände, auch wenn sie zitterten. Olav spürte die Finger durch den Ärmel und mußte den Arm wild schütteln, um sich davon zu befreien.
Das dauerte einige Sekunden, und in der Zwischenzeit hatten die Polizisten ihren Tisch erreicht.
»Seid ihr zusammen hier?« fragte der eine.
Olav starrte auf den Boden und zog sich die Mütze noch weiter über die Ohren.
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»Nein, ich kenne ihn überhaupt nicht«, sagte er und ging auf den Ausgang zu.
Er hatte den Blumenladen bei den automatischen Türen beinahe erreicht, als er den einen Polizisten rufen hörte. Da hier die ganze Zeit Leute ein und aus gingen, spürte er bereits den kalten Luftzug der Freiheit dort draußen.
»He, du! Warte mal!«
Er blieb stehen, sah sich aber nicht um. Die Mütze juckte an seiner Stirn, doch er wagte nicht, sie höher zu schieben. Er hatte etwas im Schuh, etwas, das riesengroß geworden war und ihm die Fußsohle zerschnitt, so daß sein Bein fast gelähmt war.
Irgend etwas hatte seine Lunge gepackt, und er konnte kaum atmen. Er sah die vielen Menschen, die kamen und gingen, Männer mit Frau und kleinen Rotzgören in Kinderwagen, alle mit Mündern, die lächelten und sich bewegten. Und doch konnte er nur das heftige Hämmern seines eigenen Herzens hören. Ihm war schlecht. Entsetzlich schlecht.
Und dann rannte er los. Er hatte es perfekt berechnet, die Türen standen weit offen, wollten sich gerade schließen. Alle Menschen, die das Einkaufszentrum betreten oder verlassen wollten, blieben stehen und starrten dem Jungen hinterher, der wie eine riesige Kanonenkugel auf dem Parkplatz verschwand.
Sie standen den beiden Polizisten im Weg, die nun die Verfolgung aufgenommen hatten, und die Türen konnten einander noch berühren, ehe sie viel zu langsam wieder auseinanderglitten und die beiden fluchenden Polizisten endlich freiließen. Als sie vor dem Einkaufszentrum standen, konnten sie den Jungen nirgends mehr sehen. Sie liefen in
unterschiedliche Richtungen. Der eine verlor seine Mütze und mußte noch mit ansehen, wie sie von einem Auto überfahren wurde, dann lief er weiter.
Der andere hatte mehr Glück. Als er das Parkhaus erreichte, sah er jemanden die außen angebrachte Treppe hochjagen.
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Mütze und Steppjacke, die er über dem Geländer gerade noch erkennen konnte, stimmten. Er überlegte kurz, ob er seinen Kollegen verständigen sollte, ehe er die Verfolgung fortsetzte, erkannte aber rasch, daß das Parkhaus so viele Ausgänge hatte, daß ihm einfach die Zeit fehlte. Er stürmte hinter dem Jungen her die Treppen hoch.
Sein Kollege, der auf eine einige hundert Meter entfernt gelegene Tankstelle zuhielt, begriff trotzdem, was vor sich ging und steuerte die Autorampen vor dem Parkhaus an, um dem Jungen dort den Weg abzuschneiden. Nur wenige Sekunden nach seinem Kollegen erreichte er die oberste Parkhausebene.
Der Junge war nirgends zu sehen. Der ältere Kollege machte mit der Hand eine Zickzackbewegung, wie das Bild eines jagenden Hais. Dann suchten sie das gesamte Geschoß ab. Sie sahen bei allen Autos nach. Sie suchten vor, hinter und zwischen den Wagen. Sie untersuchten sogar jedes einzelne Auto, obwohl sie beide nicht glaubten, daß ein zwölfjähriger Fettwanst unter einen normalen Personenwagen paßte. Schließlich mußten sie der für zwei durchtrainierte Polizisten im besten Alter doch sehr peinlichen Tatsache in die Augen sehen, daß Olav Håkonsen, der vermißte Junge, abermals spurlos verschwunden war.
Ohne große Begeisterung oder Hoffnung setzten sie die Suche im Einkaufszentrum und in dessen Umgebung noch eine halbe Stunde fort. Dann saßen sie betreten in ihrem Streifenwagen und erstatteten Bericht: Der Junge war gesehen und verfolgt worden, hatte jedoch entkommen können. Da seine bisher letzten Spuren aus Grefsen stammten, konnte die Polizei zu dem falschen Schluß kommen, er habe sich die ganze Zeit in dieser Gegend aufgehalten. Das befreite sie von dem Verdacht, er habe sich bei seiner Mutter versteckt, einem Verdacht, der sich noch verstärkt hatte, als mehrere Nachbarn, natürlich anonym, ihre Überzeugung vorgetragen hatten, daß Olav
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