Das einzige Kind
mich hören wollen. Jetzt aber, da wissenschaftlich bewiesen war, daß meinem Jungen etwas fehlte, behauptete das Jugendamt, unter diesen Umständen könne ich mich nun wirklich nicht um ihn kümmern. So schwierig, wie er sei. Und sie waren trotz allem nicht davon überzeugt, daß er krank ist, denn die Symptome von MCD sind die gleichen wie die von normaler Vernachlässigung.
Sie wollten mir absolut Therapie und Betreuung in der Wohnung andienen. Ich sagte, daß ich wirklich alles tun wollte, um Olav zu helfen, daß ich selbst aber keine Hilfe brauchte. Ich war ja nicht krank. Mit mir stimmt schließlich alles.
Am Ende landete der Fall vor dem Bezirksausschuß. Sie wollten mir meinen Jungen wegnehmen.
Ich hatte nächtelang nicht mehr geschlafen. Als ich zu der Besprechung ging, merkte ich, daß ich nicht gut roch, obwohl ich doch morgens noch geduscht hatte. Meine Kleider kamen mir zu klein vor, und ich bereute, die blaue Kunstfaserbluse und nichts aus Baumwolle angezogen zu haben. Aber mein Anwalt hatte mir geraten, mich sorgfältig zu kleiden. Während der ersten Stunde konnte ich nur daran denken, daß mein Geruch immer schlimmer wurde und daß die Schweißringe unter meinen Armen immer deutlicher zu sehen waren. Mir war schwindlig.
Eine große mollige Frau mit Pferdeschwanz und Brille und einer komischen Mischung von Akzenten ließ sich immer wieder 220
darüber aus, was alles im Laufe der Jahre schiefgegangen sei.
Sie war die Anwältin des Jugendamtes. Im Ausschuß saßen fünf Menschen, vier Frauen und ein Mann. Drei machten sich eifrig Notizen, der Mann ganz links jedoch schien immer wieder einzunicken. Die eine Frau, sie war sicher schon über sechzig, sah mich die ganze Zeit an, mit einem Blick, von dem mir nur noch schwindliger und unwohler wurde. Am Ende mußte ich um eine Pause bitten.
Mein Anwalt brauchte viel weniger Zeit als die Anwältin des Jugendamtes. Das war sicher ein schlechtes Zeichen, aber ich wagte nicht, ihn danach zu fragen. Außerdem ließ das Jugendamt eine ganze Armee von Zeugen aufmarschieren. Ich hatte keine. Der Anwalt hatte gesagt, das sei nicht nötig. Mir waren auch keine eingefallen, als er mich danach gefragt hatte.
Nach zwei Tagen fiel die Entscheidung. Die
Ausschußvorsitzende, die die ganze Zeit freundlich gewesen war, fragte mich, ob ich das Gefühl hätte, daß wir zu einem wichtigen Ergebnis gekommen seien, und ob ich noch etwas hinzufügen wolle. In mir steckte ein riesiger Klumpen von Wörtern, die nicht gesagt worden waren. Ich wollte sie so gern dazu bringen, daß sie verstanden. Ich wollte mit ihnen in der Zeit zurückgehen und ihnen alles zeigen, was gut war, ihnen zeigen, wie sehr Olav und ich uns liebten. Ich wollte ihnen klarmachen, daß ich alles für meinen Jungen getan hatte, daß ich nie Alkohol getrunken oder andere Rauschmittel genommen hatte, daß ich ihn nie geschlagen hatte, daß ich immer, immer Angst gehabt habe, ihn zu verlieren.
Aber ich schüttelte nur den Kopf und starrte auf den Boden.
Zwölf Tage danach erfuhr ich, daß sie mir meinen Sohn weggenommen hatten.
Olav Håkonsen lag hinter dem Parkhaus beim Einkaufszentrum von Storo in einem Abfallcontainer und fragte sich, wie lange er 221
hier wohl schon lag. Sein Kopf tat entsetzlich weh, und der Container stank wie die Pest. Er versuchte sich aufzurichten, sank aber zwischen den vielen Mülltüten wieder zurück. Es war jetzt ganz dunkel. Als er auf die Uhr schauen wollte, sah er, daß seine Swatch verschwunden war. Er konnte sich nicht erinnern, ob er sie vorhin noch getragen hatte. Beim nächsten Versuch, sich aufzurichten, wurde ihm schlecht, und er erbrach Kuchen und Cola. Das half ein bißchen.
Der Container war nur halb voll, aber der Müll war ungleichmäßig verteilt, und er lag so hoch oben, daß er die eiskalte Metallkante gerade noch erreichte. Auch seine Handschuhe waren verschwunden. Endlich konnte er sich hochziehen, geriet auf der schaukelnden Unterlage jedoch aus dem Gleichgewicht. Er versuchte, sich zu erinnern, was geschehen war.
Er war gesprungen. Sechs oder sieben Meter über sich sah er die Kante der obersten Parkebene. Es war die einzige Rettung gewesen, das wußte er noch. Mehr wußte er nicht.
Er vergrub sich immer tiefer zwischen den schwarzen stinkenden Müllsäcken und versank in einer gesegneten, traumlosen Finsternis.
Erik Henriksen hatte einen langen Arbeitstag hinter sich, und noch immer konnte von Feierabend keine Rede sein. Fünf Verhöre standen
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