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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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diesen Plan dann aber doch wieder aufgegeben.
    Als er das Tor öffnete und zu dem großen Haus gehen wollte, kam eine magere Frau aus der Tür. Sie sah ihn, blieb stehen und wartete, bis er sie erreicht hatte.
    »Sie sind von der Polizei«, sagte sie skeptisch und blickte ihn forschend an.
    Er bestätigte ihre Vermutung, und sie starrte ihn weiterhin konzentriert an, so als ob sie versuchte, sich an etwas zu erinnern. Dann schüttelte sie rasch den Kopf. Wortlos hielt sie ihm die Tür auf und lief danach über den Kiesweg zum Tor.
    Raymond kam die Treppe heruntergepoltert und wäre fast mit Billy T. zusammengestoßen, als der Polizist einen Blick in den Aufenthaltsraum werfen wollte.
    »Ach, bist du nicht in der Schule?« fragte Billy T.
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    »Hatte meine Turnklamotten vergessen. Maren ist im Besprechungszimmer«, rief der Siebzehnjährige und knallte mit der Tür, als wollte er die Toten aufwecken.
    Kenneth aber, der im ersten Stock schlief, wurde davon zum Glück nicht wach »Endlich. Er hat letzte Nacht fast kein Auge zugetan«, sagte Maren Kalsvik erschöpft und bot ihm einen Stuhl an.
    »Sie offenbar auch nicht.«
    Sie lächelte kurz, kniff die Augen zusammen und zuckte mit den Schultern.
    »Das geht schon. Aber ich mache mir Sorgen. Die Kinder leiden unter der Situation, wissen Sie. Gerade unsere, die vor Unruhe geschützt werden sollten. Deshalb sind sie doch hier.
    Ha! Ein Mord und ein Selbstmord. In anderthalb Wochen!«
    Sie schlug die Hände vors Gesicht und blieb einige Sekunden in dieser Haltung sitzen, dann sprang sie auf und schlug mit aufgesetzt fröhlicher Stimme vor, nun aber mit dem Verhör zu beginnen.
    »Da wir das bei Ihnen machen«, sagte Billy T. und stellte ein Tonbandgerät mitten auf den Tisch, »benutze ich das hier.
    Okay?«
    Sie gab keine Antwort, was er für Zustimmung hielt. Nach einigem Hin und Her funktionierte das Tonbandgerät schließlich, obwohl es mindestens fünfzehn Jahre alt war und tickte wie ein altes Uhrwerk. Es gehörte der Osloer Polizei, und aus irgendeinem Grund wurde das durch sechs verschiedene Aufkleber kundgetan. Neben das Tonbandgerät legte er sein Funktelefon. Es war sein privates und erst zwei Monate alt.
    Seine Söhne hatten es ihm zu Weihnachten geschenkt, und das mußte bedeuten, daß ihre Mütter sich auf irgendeine Weise abgesprochen hatten.
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    »Muß ich einschalten«, sagte er entschuldigend. »Ist zwar saublöd, aber wir stecken ja mitten in einer Ermittlung. Die anderen müssen mich erreichen können.«
    Sie schwieg noch immer. Vermutlich konnte er auch dieses Schweigen als Zustimmung auslegen.
    »Gehen wir zum Abend des Mordes zurück«, sagte er.
    »Das mache ich jeden Abend«, sagte sie leise. »Wenn ich mich endlich hinsetzen und ein wenig entspannen kann. Dann ist es wieder da. Alles. Dieser entsetzliche Anblick.«
    Eigentlich bewunderte er sie. So jung und so große Verantwortung. Liebe genug für eine ganze Kinderschar.
    »Wohnen Sie jetzt hier?« fragte er.
    »Ja. Vorübergehend. Bis wieder Ruhe eingekehrt ist.«
    Das Tonbandgerät hörte plötzlich auf zu ticken, und er machte sich wieder an den Knöpfen zu schaffen, die einfach nicht unten bleiben wollten. Nach einigem Drücken hier und da schien das Gerät endlich wieder zu funktionieren.
    »Wissen Sie noch genau, wann Eirik Vassbunn Sie angerufen hat?«
    »Das muß kurz vor eins gewesen sein. Nachts, meine ich.« Sie lächelte schwach.
    »Wie kam er Ihnen vor?«
    »Total hysterisch.«
    »Hysterisch? Wie meinen Sie das?«
    »Er weinte und stotterte und konnte überhaupt nichts erklären.
    War völlig aufgelöst.«
    Ihr Gesicht hatte einen harten Zug angenommen. Sie zog das Gummi aus ihren Haaren, faßte die Haare neu zusammen und streifte das Gummi wieder darüber.
    »Er sagt, Sie seien schon hier gewesen, noch ehe er die Polizei angerufen hat.«
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    Billy T. erhob sich und ging zum Fenster. Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und fragte, ohne sie anzusehen:
    »Warum haben Sie das beim ersten Verhör nicht gesagt?«
    Dann fuhr er herum und starrte sie an.
    Aber in ihrem Gesicht las er nur aufrichtige Überraschung.
    »Aber das habe ich doch ganz deutlich gesagt«, sagte sie. »Da bin ich mir hundertprozentig sicher.«
    Billy T. ging zum Tisch und griff nach dem Protokoll des ersten Verhörs. Es war fünf Seiten lang und unterschrieben von Kalsvik und Tone-Marit Steen.
    »Hier«, sagte er und las vor. »Die Zeugin sagt aus, Eirik Vassbunn habe sie gegen 01.00 Uhr angerufen. Es

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