Das einzige Kind
passiert. Auch Kollegen gehen eben aus. So groß ist Oslo nun auch wieder nicht. Sie hatte ihre Strategien. Ein leichtes Nicken, ein kurzes Winken, dann eilte sie davon, als habe sie ein wichtiges Ziel. Etwas, das eilig war und ein ausführliches Gespräch verhinderte. Das wirkte immer, auch wenn Cecilie dann sauer oder zumindest traurig war.
Aber hier, vor einem Kino, dessen nächste Vorstellung erst in zwanzig Minuten beginnen würde, zusammen mit allen anderen Wartenden, die mit ihren Eintrittskarten winkten, konnte sie das nicht machen. Und die Leute waren ihre eigenen Untergebenen.
Menschen, mit denen sie eng zusammenarbeitete. Jeden Tag. Sie mußte mit ihnen sprechen.
Um den anderen zuvorzukommen, ließ sie ihre Freundinnen stehen und ging auf die Kollegen zu. Sie merkte zu spät, daß Cecilie ihr folgte. Karen und Miriam begriffen sofort und verschwanden im Kino-Inneren. Daß die beiden auf Teufel komm raus so lesbenhaft aussehen wollten, war unbegreiflich.
Und ab und zu auch unangenehm.
Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Also sagte sie die Wahrheit.
»Das ist Cecilie.«
Drei Sekunden lang stand die Welt still, dann fügte Hanne hinzu: »Wir haben eine gemeinsame Wohnung. Wir wohnen zusammen.«
»Ach«, sagte Erik Henriksen und reichte Cecilie die Hand.
»Erik. Wir arbeiten zusammen.«
Seine linke Hand beschrieb einen Bogen, der ihn, Hanne und Tone-Marit einschloß.
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»Und du, bist du auch eine Kollegin?« fragte er zögernd und blickte Cecilie ins Gesicht.
»Nein, ganz und gar nicht.« Sie lachte. »Ich arbeite im Ullevål Krankenhaus. Und du bist also Erik. Von dir habe ich schon einiges gehört.«
Hanne sah, daß Erik mit seinem ewigen Erröten kämpfte, und dankte den höheren Mächten, weil so ihr eigenes weniger auffallen würde. Sie wagte nicht, Tone-Marit anzusehen.
»Habt ihr noch viel erledigen können?« fragte sie leichthin und machte einen unmerklichen Schritt zur Seite, um nicht zu dicht neben ihrer Freundin zu stehen.
»Fünf Verhöre stehen noch aus«, sagte Tone-Marit. »Die schaffen wir sicher morgen. Übrigens ist heute nachmittag der Junge gesehen worden.«
Hanne riß sich zusammen. »Gesehen? Von unseren Leuten?«
»Ja, im Einkaufszentrum von Storo. Aber er ist entwischt«, erzählte Erik. »Schon ein harter Brocken. Jetzt ist er vierzehn Tage unterwegs. Da oben wird jetzt alles abgesucht. Die Villa, in der er einige Tage verbracht hat, ist ja nicht so weit von Storo entfernt. Die Jungs glauben, daß er vielleicht einen neuen Schlupfwinkel gefunden hat, deshalb kämmen sie verlassene Höfe und so was durch. Und Abbruchhäuser.«
»Na«, sagte Hanne locker und versuchte, diese unerwünschte Begegnung hinter sich zu bringen. »Laß uns reingehen. Ich will die Werbung sehen.«
»Sie ist ein hoffnungsloser Fall«, Cecilie lächelte wie zur Entschuldigung. »Sie liebt Werbung.«
»Den Spruch hättest du dir wirklich sparen können«, fauchte Hanne, als sie außer Hörweite waren.
»Ich finde, du hast das gut gemacht, Hanne«, sagte Cecilie ruhig, nahm Hanne die Eintrittskarten ab und reichte sie dem Türsteher.
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»Ich hatte ja keine Ahnung, daß Hanne eine Mitbewohnerin hat«, murmelte Erik, als er und Tone-Marit ihre Plätze gefunden hatten. »Ziemlich tolle Frau übrigens.«
Tone-Marit machte sich an einem Trinkhalm zu schaffen, der einfach nicht in den Saftkarton hineinwollte.
»Ich glaube nicht gerade, daß sie nur zusammen wohnen«, sagte sie ruhig und bohrte endlich den widerspenstigen Trinkhalm durch das Loch.
Aber inzwischen hatte Erik sich schon in seine Tüte Schokobonbons vertieft und freute sich auf den Film.
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10
Am Freitag morgen um zehn rief Maren Kalsvik wieder bei Billy T. an. Kenneth war krank. Er weinte und wollte sie nicht fortlassen. Normalerweise würde sie nicht darauf eingehen, erklärte sie, aber in letzter Zeit sei doch so viel passiert. Der Junge sei verzweifelt, habe Angst und neununddreißig Grad Fieber. Sie wisse, daß sie sehr viel verlange, aber da die anderen Heimangestellten ohnehin schon auf der Wache auf die Verhöre warteten, wolle sie doch darum bitten, daß er zu ihr komme. Ins Kinderheim.
Billy T. konnte Kenneth gut leiden. Und er kannte sich mit kranken Kindern aus.
Um zwanzig vor elf stellte er seinen Wagen vor dem Kinderheim Frühlingssonne ab. Er hatte Hanne nicht erreicht, und das beunruhigte ihn ein wenig. Er hätte sie fast zu Hause angerufen, nur um in Erfahrung zu bringen, ob sie dort war, hatte
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