Das Ekel von Datteln
Hecke entlang. Einige Schritte weiter gab es eine Stelle, die weniger dicht war. Tiefe Spuren hatten sich in das tellergroße Stück unbewachsenen Bodens gepresst: Offenbar quetschten sich Gellermanns Töchter hier hindurch, wenn sie zum Rollschuhfahren gingen.
»Sie bleiben da!«, herrschte Lohkamp die Männer mit der Kamera an. Dann schlängelte er sich als Erster durch die Lücke.
»Komm!«, sagte Mager.
»Mensch! Die hauen uns …«
»Komm, sage ich!«
Das Stück Rasen hinter der Hecke konnte sich sehen lassen: Reichlich Platz für Federball und Sonnenbad. Eine Schaukel, eine Sandkiste. Buntes Holzspielzeug. Auf der halb überdachten Terrasse vier Gartensessel und ein runder Tisch. Nicht abgeräumte Tassen, halb voll mit Regenwasser. Eine Flasche Cognac, leer.
Das Auge am Okular blieb Mager an der Hecke stehen und sah zu, wie die Kripo-Leute an den beiden Erdgeschossfenstern entlangliefen. Fehlanzeige. Das Terrassenfenster: Leicht gekippt. Die Tür im Schloss. Ratlosigkeit, Kopfkratzen, Nackenmassage.
Pause.
Eine Minute lang.
Dann probierte Lohkamp etwas aus: Er drückte gegen die Terrassentür. Erst leicht, dann fester. Und ganz plötzlich gab es einen leisen Knacks: Sie war eingerastet, aber nicht verriegelt gewesen.
Mager stürmte vor, aber Brennecke stellte sich ihm in den Weg: »Jetzt ist Sense, Mann, da können Sie wirklich nicht rein!«
Sie warteten. Zehn Sekunden lang. Dann tauchte Lohkamp wieder auf. Blass.
»Er ist tot!«
39
»Unfasslich!«, schrie Saale und knallte die Zeitungen auf den Tisch, die er aus Datteln mitgebracht hatte. »Schau dir das mal an!«
Mager nickte und rieb sich die brennenden Augen. Seit Stunden starrte er auf die beiden Monitore, ließ die Videobänder vor- und zurücklaufen, markierte Schnittstellen, verglich die Aufnahmen mit der Shotliste, machte all das, wofür eine anständig ausgebildete Schnittkraft mindestens einen Fünfziger Stundenlohn kassierte. Bei ihm war es im Preis inbegriffen. Die GmbH, die zu zwei Dritteln Susanne und zu einem Drittel ihm gehörte, hatte ihn als Kameramann und Schnittmeister im Paket gekauft, für 2.500 Brutto. Das war der Einheitslohn bei PEGASUS – bis die besseren Zeiten kamen. Aber die schienen ihm an an diesem Vormittag in weite Ferne gerückt.
Er stand auf, nahm die Zeitungen mit in sein Büro, goss sich Kaffee ein und legte die Beine auf eine halb herausgefahrene Schublade. Schlug die Blätter auf und staunte.
FRAKTIONSCHEF: SELBSTMORD
Datteln. Tot aufgefunden wurde am Montagnachmittag der bekannte Kommunalpolitiker und Prokurist der Wagner-Transportsysteme GmbH Uwe Gellermann (41). Er hat in seiner Eigentumswohnung am Hafenweg offenbar schon am Sonntagabend Selbstmord begangen. Über etwaige Zusammenhänge mit dem noch unaufgeklärten Mord an Ruth Michalski (29), der Sekretärin seines Chefs Gustav Puth, vor drei Wochen wird derzeit noch spekuliert. Aus Familienkreisen verlautete, der Vater zweier Kinder habe in letzter Zeit zunehmend unter der Doppelbelastung gelitten, die durch die Arbeit in seiner Partei und in der Firma entstanden ist. Bekanntlich haben die Wagner-Werke (vormals Puth GmbH) in den letzten Monaten mehr Arbeitskräfte abbauen müssen, als es in den Rationalisierungsplänen vorgesehen war.
»Das gibt’s doch gar nicht!«, schrie jetzt auch Mager und lief zu dem langen Saale hinüber. »Die wollen den offenbar als Psychopathen abstempeln. Einfach lächerlich …«
Er griff zum Telefon, schaltete den Raumlautsprecher ein und wählte Lohkamps Nummer. Der hörte sich geduldig an, was Mager ihm erzählte, war aber völlig anderer Meinung.
»Hören Sie, Herr Mager, die Sache ist eindeutig. Die Pistole lag neben ihm – mit seinen Fingerabdrücken. Schmauchspuren am Kopf. Und auf dem Tisch lag ein Abschiedsbrief – getippt zwar, aber eigenhändig unterschrieben …«
»Ich glaub’s nicht!«
»Hören Sie, Sie haben die ganze Zeit vor dem Haus gestanden. Glauben Sie, dass ich …«
»Nein, das meine ich nicht. Die Sache mit der Schwermut.«
Lohkamp schwieg einen Augenblick. Papier raschelte. Er räusperte sich.
»In zwei Stunden werden wir es sowieso bekannt geben. Also: Er hat in dem Abschiedsbrief gestanden, diese Ruth Michalski umgebracht zu haben …«
Im PEGASUS-Büro schüttelte man die Köpfe.
»Die hatten doch ein Verhältnis! So jemanden bringt man doch …«
»Herr Mager! Sie vergessen ganz, womit ich meine Brötchen verdiene. Also: Sie hatte vermutlich gehofft, er würde
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