Das Elbmonster (German Edition)
Morgengymnastik betreibt, und das bereits seit Jahrzehnten mit einer fast unglaublichen Konsequenz. Niemals würde er freiwillig seine Zeitnorm überschreiten.
Den Inhalt und Ablauf seiner Übungen, die ihm zweifellos dienlich sind, hatte er einstmals mehrfach ausgetestet, bis sie sich ihm als vollkommen tadellos erwiesen. Seither gibt es keinerlei Abweichungen von der fest gefügten Vorgabe, die er stets exakt einhält. Sein Programm erstreckt sich von den Zehenspitzen bis zum Scheitel, selbstverständlich straff verbunden mit zwölf Kniebeugen und ebenso vielen Liegestützen. Mit einem Dutzend tiefen Atemzügen und dem „Gruß an die Sonne“ (aus der indischen Yogalehre) beendet er sein allmorgendliches Ritual. Falls er aus zwingenden Gründen einmal darauf verzichten muss, fehlt ihm wirklich etwas. Aber das kommt höchst selten vor.
Da ich sein gymnastisches Training kenne und selbst seit mehreren Jahrzehnten regelmäßig praktiziere, weiß ich aus eigener Erfahrung, dass es sehr rationell und nützlich ist. Bloß völlig Uneingeweihte staunen mitunter arg darüber, was man in einer doch relativ kurzen Zeitspanne an Sinnvollem für das gesundheitliche Wohlbefinden machen kann. Allein Disziplin und Ausdauer sind gefragt, sonst nichts, und es tut spürbar gut. Ergo werden sicherlich keinerlei stichhaltige Einwände dagegen vorzubringen sein.
Unser literarischer Protagonist würde auch sein Auto niemals länger als zwölf Jahre fahren, allerdings auch nicht weniger (selbst die 2009 geltende „Abwrackprämie“ konnte ihn nicht dazu animieren). Zudem ist er prinzipiell kein Anhänger von modischem Schnickschnack nach Art der Wegwerfgesellschaft, gleich welcher Branche. Die so gewonnene Zeit und das ersparte Geld setzt er für wichtigere Dinge des Lebens ein, zum Beispiel zur Unterstützung seiner Kinder und Enkel oder für soziale Zwecke.
Doch Abels kultischen Handlungen beschränken sich natürlich bei Weitem nicht darauf, Gutes zu tun.
Früher, als seine Frau, unsere überaus beliebte Ulrike noch lebte, waren beide oft und gerne von erwünschten Besuchern umgeben. Indessen hatte er sich kein einziges Mal von seiner Liebsten davon überzeugen lassen, mehr als zwölf Gäste einzuladen, denn ein dreizehnter (des Teufels Dutzend!) brächte nur Unglück, war seine stereotype Begründung. Freilich wäre dafür selbst der größte Raum von nur sechzehn Quadratmetern in ihrer ohnedies ziemlich kleinen Wohnung kaum geeignet gewesen, könnte man ihm diesbezüglich entgegenzukommen.
Sein abgründig striktes Ordnungsprinzip erfasste indessen peu à peu sämtliche Vitalbereiche, und zwar so stark, dass Abel Kager schließlich Sklave seiner eigenen Vorgaben wurde. Dafür könnte ich viele Beispiele aufzählen. Allein wenn ich an den Schrebergarten denke, den sich das Ehepaar 1989 in einer entsprechenden Kolonie bei Meißen nach längerem Bemühen redlich erwarb, so fällt es mir schwer, halbwegs glaubhaft zu vermitteln, was sich danach auf jener mickerigen Scholle von knapp dreieinhalb Ar (genau 337 Quadratmeter) tatsächlich vollzog. Nicht genug, dass unser dubioser Held unverzüglich beinahe sämtliche Bäume und Sträucher rodete, weil sie nach seiner Auffassung eindeutig zu alt waren, machte er sich auch sogleich ans Werk, neue zu pflanzen. Wie viele mögen es wohl gewesen sein? Dreimal dürfen wir raten! Na klar, jeweils zwölf! Immerhin waren es unterschiedliche Obst- und Beerenarten.
Die Reihe der Aufzählung seiner eigentümlichen Allüren ließe sich beliebig fortsetzen. Aber ich will es mir und vor allem den Lesern ersparen, zumal einiges davon regelrecht peinlich werden könnte. Außerdem wäre es ja auch nicht fair, ihn übermäßig ins Negative abgleiten zu lassen, ganz abgesehen davon, dass ich ohnehin meine, jeder von uns hat gute und schlechte Seiten. Da gibt es keine Ausnahmen, allenfalls die fragwürdige Einbildung mancher, sie wären Musterexemplare an Redlichkeit und Vorbildhaftem. Nichts ist mit Prototyp an menschlicher Vollendung! Unser konkretes Leben verläuft anders.
Genau das halte ich wiederum für ausnehmend spannungsreich und daher echt fesselnd, die ständige Zwiespältigkeit unseres Charakters, seine unaufhörliche Ambivalenz. Gut, ich gebe zu, irgendwelche Idole habe ich nicht, die ich abgöttisch verehre. Das ist wohl auch eher etwas für unerfahrene Teenager. Indessen lehne ich jedweden Götzendienst prinzipiell ab, weise ihn kategorisch zurück. Gleichwohl
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