Das Elfenportal
benutzt, ohne dass es irgendjemandem aufgefallen wäre. Allerdings waren diese Missionen auch nicht so gefährlich gewesen wie die heutige. Blue überlegte kurz, dann rieb sie sich etwas Farbe ins Gesicht. Nun sah sie ziemlich wettergegerbt aus. Das half schon ein wenig.
Blue überprüfte ihre Bewaffnung. Sie war armselig. Das Problem war, dass alles zusammenpassen musste. Fabrikarbeiter oder Lehrlinge konnten sich keine Zauberwaffen leisten, nicht einmal simple Schwerter. Die meisten hatten zu ihrer Verteidigung nur einen Totschläger dabei, wenn überhaupt. Blue entschied sich für einen kleinen Dolch und einen in eine Kupfermünze eingebauten Schreihals. Der Dolch war gerade noch akzeptabel – er sah eine ganze Ecke billiger aus, als er war –, und wenn der Schreihals entdeckt wurde, konnte sie jederzeit behaupten, dass sie ihn gestohlen hatte. Zur Ergänzung steckte sie noch einen Zauberdietrich in die Hosentasche.
Sie warf einen abschließenden Blick in den Spiegel, dann ging sie zu ihrem Bücherregal und tippte eine schmale Ausgabe von Crudmans Essays an. Ein Teil des Regals glitt auf geölten Schienen zurück. Als Blue in den dahinter liegenden Geheimgang trat, leuchteten sanft Glühkugeln auf und das Regal glitt wieder an seinen Platz. Keine halbe Stunde später mischte Blue sich in Northgate unter die wimmelnden Massen.
Vor fünfhundert Jahren hatte in Northgate das erste Theater aufgemacht, und seitdem hatte der Bezirk sich zum Vergnügungsviertel entwickelt. Nur dass die angebotene Unterhaltung sich heutzutage nicht auf Theater beschränkte. Funkelzauberschilder warben für Wirbelbuden, Abfüllhöhlen, Chaoshorn-Stuben, Simbala-Musikcafés, Realitäts-Suiten und – das war ihr neu – etwas namens Bio-Sprudel-Spaß. Die Gehwege waren bevölkert, wie immer zu dieser Abendzeit, und Straßenkünstler arbeiteten hart, um den Leuten ein paar Münzen zu entlocken. Blue kam an Jongleuren und Akrobaten vorbei, an einer winzigen Truppe Wanderschauspieler und einem merkwürdig aussehenden Individuum, das sich seinen Weg durch einen lebenden Drachen zu fressen schien. Natürlich war das eine Illusion, aber eine gute.
Eine schon angejahrte Dirne trat aus einem Eingang heraus. »Möchte der junge Herr ein Chaoshorn mit mir teilen?«
Blue winkte grinsend ab. Auf den ersten Blick funktionierte ihre Tarnung schon mal.
Auf einem Routinegang hätte sie sich hier noch Zeit gelassen und das Durcheinander und die verrückten Einzelheiten bestaunt. Aber dies war kein Routinegang. Ihr Vater mochte überzeugt sein, dass er Pyrgus in der Gegenwelt aufspüren konnte, aber Blue war sich da nicht so sicher. Seit Tagen ging ihr ein Gesprächsfetzen nicht aus dem Kopf:
»Ich dachte, dieser schreckliche Hairstreak hätte dich umgebracht! Es hat beinahe drei Tage gedauert, bis ich überhaupt irgendetwas über dich erfahren habe!« Und Pyrgus sagte: »Hairstreak ist nie auch nur an mich herangekommen. Es war jemand ganz anderes, der mich beinahe umgebracht hätte.«
Sie waren in der Kapelle gewesen, kurz bevor Pyrgus durch das Portal getreten und verschwunden war. Es war jemand ganz anderes, der mich beinahe umgebracht hätte. Er hatte es als einen Witz abtun wollen, aber sie kannte ihren Bruder – er hatte sich verplappert. Es war etwas geschehen, von dem er nicht wollte, dass sie es erfuhr… und auch niemand anders. Er spielte Sachen gern herunter. Aber Tatsache war, dass ihn beinahe jemand umgebracht hatte. Nicht Hairstreak, jemand anderes. Und kaum war ihm das herausgerutscht, da hatte ihn schon wieder jemand umzubringen versucht, hatte ihm jemand Gift in die Adern gespritzt und das Portal des Hauses Iris sabotiert. War das ein zufälliges Zusammentreffen? Holly Blue konnte es sich nicht vorstellen.
Sie schob sich an einer Reihe Synchron-Schwertschlucker vorbei und betrat die Garrick Lane. Hier war das allererste Theater errichtet worden. Das Gebäude stand längst nicht mehr, aber die Straße selbst war immer noch das schlagende Herz von Northgates Theaterviertel. Sie passierte die grellen Fassaden des Moon und des Globe und des Garrick, dann war sie bei der unscheinbaren schmalen Treppe neben dem alten Zauberladen angelangt. Auf dem ersten Treppenabsatz stellte sich ihr die Illusion eines Wächters in den Weg.
»Wer wagt es, Audienz bei der Bemalten Dame zu begehren?«, fragte er drohend.
Blue schmunzelte in sich hinein. Ein typischer Gaukelwächter sagte Sachen wie Bitte nennen Sie Namen und Angelegenheit, aber das
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