Das elfte Gebot
flüchtigen Kuß. „Tut mir leid, Boyd. Ich vergaß, daß Sie nicht an Menschenmengen gewöhnt sind. Und ich wäre wirklich gern mit Ihnen zusammengewesen.“
Das war keine besonders befriedigende Bemerkung. Er hätte gern gewußt, warum.
Als er in den Hausflur kam, rief Pete ihn an. „War gestern ’n Knabe da, Boyd, der zu Ihnen wollte. Der Bursche, der das Dreirad dieses Priesters fährt. Sagte, der Bischof wollte Sie sehen – irgendwas über ’ne Aussicht auf ’ne Stellung als Logiker oder so. Ha’m Sie Schwierigkeiten?“
„Keine Ahnung“, erklärte ihm Boyd wahrheitsgemäß. Allem Anschein nach bedeutete das unklare Wort Zytologe. Vielleicht hatte die kleine von Vater Petty eingeräumte Ehre eine Reaktion bewirkt – vielleicht auch, daß man tatsächlich eine neue Arbeitsstelle für ihn hatte.
„Sagte, er will Sie Montagmorgen abholen“, rief ihm Pete hinterher.
Boyd murmelte einen Dank und stampfte in sein Zimmer. Er mochte nicht einmal seine Träume.
6
Jem lehnte jeden Hinweis ab, während sie am Montag in der Frühe zur Kathedrale fuhren. Er schien Boyd nach wie vor als einen Himmelsdämon anzusehen. Boyd erfuhr nur, daß Gordini gegenwärtig auf einer Beratung weilte.
Sobald Bruder Mark ihn ins Arbeitszimmer des Bischofs geführt hatte, wurde ihm klar, daß die Angelegenheit mit dem Laboratoriumsbericht im Zusammenhang stand. Die Schriftstücke, die vor O’Neill auf dem Schreibtisch lagen und die dieser eben mit einem vergnügten Lächeln durchlas, waren in Vater Pettys kritzliger Handschrift abgefaßt.
„Wunderschön, dieser Morgen, Boyd, finden Sie nicht auch? Dieses gute Wetter kann nur Gottes Segen bedeuten. Ach, ich vergesse immer, daß Sie ein Heide sind.“
„Ein verdammungswürdiger Heide?“ meinte Boyd in Anspielung auf den Bericht.
O’Neill schüttelte gemächlich den Kopf. „Nein, dazu besteht bisher kein Anlaß. Die Kirche lehrt keinesfalls, daß alle Heiden verdammungswürdig sind, mein Sohn. Nur diejenigen, die der Wahrheit gegenüberstehen und sie wissentlich leugnen. In Ihrem Fall jedoch, da bin ich mir sicher, ist noch nicht alles verloren.
Aber ich ließ Sie nicht rufen, um Ihnen eine Bekehrungspredigt zu halten. Ich habe von unserem Erzbischof Bonaforte VII. – der übrigens selbst ein hervorragender Wissenschaftler ist – eine Notiz vorliegen, die er anläßlich dieses Berichts geschrieben hat, oder irre ich mich?“
Er überreichte sie ihm. Boyd studierte die Mitteilung, las sie sorgfältig Wort für Wort durch. Er hatte immer noch Schwierigkeiten mit der Sprache. Sie lautete:
„O’Neill – Offensichtlich wurde die Arbeit nicht von Petty, sondern von niemand anders als Jensen geleistet. Die rasche Entdeckung des Grunds für die Instabilität zeigt ein so hohes Maß an intuitivem Denken, wie ich es bisher nur selten gesehen habe. Das ist es, was wir brauchen. Jensen ist sofort unter Ihre Obhut zu nehmen. Ich bitte Sie, ihn mit einer Arbeit an einem geeigneten Platz zu betrauen. – Bonaforte.“
Boyd reichte dem Bischof die Mitteilung wieder herüber. Er strahlte vor Befriedigung, enthielt sich aber jeden Kommentars. O’Neill seufzte leise. „Vater Petty ist ein alter Mann, der einen Anspruch auf Ruhm hat. Lassen wir ihn in dem Glauben, er hätte die Arbeit geleistet. Wir wollen ihm nicht das Herz brechen. Auf alle Fälle zeigt sich erneut, wie erstaunlich Gottes Wege sind – sich eines alten Mannes zu bedienen, damit Ihnen Gelegenheit geboten wird von Seiner Heiligkeit bemerkt zu werden. Ach, für mich jedoch, fürchte ich, ist die Geschichte nicht ganz so einfach. Leider kann ich Sie nicht unbedenklich entsprechend der heiligen Order einsetzen, da bei uns alle Personen, deren philosophische und ethische Qualifikation sie erst zur Arbeit mit den Bausteinen des Lebens befähigt, dem Medizinerstand angehören müssen. Korrekterweise sind sie damit auch, besonders deshalb, weil unser aller Herr ebenfalls ein Heilender war, der verlängerte Arm der Kirche. Zu dumm, daß Sie nicht von Ihrer Großmutter, die, wie ich sehe, ebenfalls Medizinerin war, die medizinische Ethik erlernt haben.“
„Nun, was das anbetrifft – von den ethischen Grundsätzen der Medizin habe ich schon ein wenig mitbekommen. Immerhin war sie eifrig um deren Förderung und Ansehen besorgt“, sagte Boyd. „Ich denke sogar, ich weiß genau, welche Auffassung sie dazu hatte.“
„Interessant.“ O’Neill lehnte sich zurück, legte die Fingerspitzen gegeneinander
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