Das elfte Gebot
anderen zu ziehen. Sehen Sie – sehen Sie nur, Boyd!“
Ein Festwagen mit Aufbauten, die offensichtlich Engel zeigten, die Bonafortes Leib zum Himmel hoben, war in Schwierigkeiten geraten. Eines seiner Räder mußte lose gewesen sein, da es vom Kurs ausscherte. Eine Seilreihe von Männern an dessen Seite war hingestürzt, und zwei davon waren, bevor die anderen sich erheben konnten, unter die Achse geraten. Ein Stöhnen ging durch die Zuschauermenge. Verschiedene Menschen sprangen vor und schnappten wild nach den Seilen. Ein weiterer Mann ging zu Boden, wurde überrollt, war aber sofort durch jemand anders ersetzt. Die Menge jubelte, als der Festwagen, in dessen Spur drei zermalmte Körper lagen, weiterfuhr. Niemand schien sich um sie zu kümmern, ausgenommen mehrere Geistliche, die schnell vorsprangen und ihnen, nachdem sie sie vor den folgenden Festwagen aus dem Weg geräumt hatten, die Letzte Ölung gaben.
„Blutrünstiger Götzendienst!“ schrie Boyd zornig.
Ellen erhob sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können, ließ sich sofort danach aber wieder zurückfallen. „Ein Glück, daß genügend Leute aus dem Stadtteil einspringen konnten, als es passierte.“
„Ich dachte, Selbstmord wäre eine Todsünde“, wandte Boyd ein. „Die schlimmste aller Sünden.“
„Sicher, aber das ist doch kein Selbstmord. Sie versuchen doch nicht sich selbst umzubringen – sie nutzen nur eine Chance, Ehre zu erwerben, und daran ist nichts Falsches.“
Es ereigneten sich noch weitere, allerdings nicht derart schwerwiegende Zwischenfälle … Boyd zitterte bei jedem vorüberziehenden Festwagen, aber schließlich endete der Zug mit einem Plattformwagen, von dem aus mehrere Geistliche die Menge segneten.
Ein Mädchen schrie Ellen etwas zu, worauf diese zurückschrie. Die beiden Mädchen kämpften sich durch die Menge, fielen sich in die Arme und zeigten ihre Freude, sich nach langer Zeit einmal wiederzusehen. Durch das Pressen und Drücken der Masse wurde Boyd von den beiden abgedrängt und verlor sie aus den Augen. Auf der Suche nach ihnen irrte er durch die sich langsam auflösende Menge, aber ohne Erfolg.
Niemand jedoch ging nach Hause, wie er bemerkte, als er von der Allee abbog. Von in dunkle Hauseingänge gedrückten Pärchen ertönte erregtes Gekicher herüber, und einige knutschten sich sogar in aller Öffentlichkeit. Niemand schien Anstoß daran zu nehmen. Die Priester waren wohl absichtlich wie vom Erdboden verschwunden. Boyd sah ein Mädchen, das auf der Suche nach jemandem die Straße herabging. Als sie mit einem jungen Mann zusammenstieß, umschlang sie dieser und ließ sie erst nach einigen Minuten Gegenwehr wieder frei. Als Boyd sich ihnen näherte, tauschten sie gerade unter Küssen ihre Namen aus. Für jemanden, der mit dem Sinn der Prozession vertraut war, mußte all dies wie ein berauschendes Stimulans wirken; er jedoch empfand es schlimmer als all jene Dinge, die er über die ausgelassensten Folgeereignisse bei Evangelistenzusammenkünften in früheren Zeiten gelesen hatte.
Es war dunkel, als er schließlich die Suche nach Ellen aufgab. Im stillen stieß er Rüche aus, daß er sie überhaupt von seiner Seite fortgelassen hatte. Vermutlich schmiegte sie sich zu diesem Zeitpunkt längst an einen anderen Mann, um nach besten Kräften das Fehlen von Blut in der Handfläche zu korrigieren. Andere Paare verfuhren jedenfalls so. Boyd erlebte zum erstenmal eine Orgie von Angesicht zu Angesicht, und sie machte ihn krank; er war sich jedoch nicht sicher, ob seine Abscheu Widerwillen oder Neid entsprang.
Aber nicht überall befanden sich Liebespärchen. Als er an einer Toreinfahrt vorüberging, hörte er plötzlich hetzende Schritte hinter sich. Es war schon zu spät, sich umzudrehen. Ein Arm schlang sich um seinen Hals, und ein harter Schlag streckte ihn zu Boden.
Als er wieder zu sich kam, fand er sich auf dem Rücken liegend in einem durch Seile abgesperrten Bereich, der durch Fackeln beleuchtet war. Ein Arzt ging herum und beugte sich über die einzelnen Körper. Als Boyd sich aufsetzte, fuhr eben ein Lastwagen vor, und weitere Menschen wurden in den abgesperrten Bereich geschleppt. Dem Gestank zufolge waren viele von ihnen hauptsächlich betrunken. Boyd erkannte schlagartig, daß etwas in die Menschenmassen gefahren sein mußte, das mehr als Raserei war. Auf seiner Zunge lag ein Geschmack, der verriet, daß der vor einigen Stunden getrunkene Saft leicht alkoholhaltig gewesen sein
Weitere Kostenlose Bücher