Das elfte Gebot
und musterte ihn darüber hinweg. „Wollen Sie damit etwa sagen, daß Sie bei ihr studiert haben? Ich bitte Sie, jetzt meinem Wortlaut folgend, genau zu antworten. Schließlich müssen wir einwandfrei die Formalitäten wahren, verstehen Sie?“
„Jawohl, ich habe bei ihr studiert“, antwortete Boyd, dem Wortlaut folgend, wahrheitsgetreu. Unter ihrer Anleitung hatte er sich mit vielerlei Dingen beschäftigt, obwohl niemals während seiner Krankheit mit Medizin.
„Und Sie sind von Ärzten Prüfungen unterzogen worden, die Sie bestanden haben?“
Die Worte waren offenbar mit großer Sorgfalt gewählt, um Boyd – ohne, daß er lügen mußte – den geforderten Wortlaut zu entlocken.
„Jawohl, ich bin von Ärzten Prüfungen unterzogen worden und habe die letzte bestanden.“ Überprüfungen hatte er sich mehr als genug bei dem Versuch herauszufinden, woran es ihm fehlte, gefallen lassen müssen.
„Na also! Dann sind Sie nach irdischem Recht berechtigt, zum Studium an einer Universität oder bei einem Arzt zugelassen zu werden. Ein alter Brauch, den wir wegen unseres Bedarfs an Ärzten wiedereingeführt haben. Mit Überprüfungen natürlich. Und nach diesem Recht wären Sie ein Arzt auf dem Mars. Da wir uns jedoch im Wirkungsbereich irdischer Gesetzbarkeit befinden, macht Sie das zu einem Arzt vom Mars. Perfekte Logik, meinen Sie nicht auch? Nun, wo Gott ist, findet sich auch ein Weg.“
„Mit ein bißchen Nachhilfe“, verbesserte Boyd ihn.
O’Neill kicherte. „Richtig, mit ein bißchen Nachhilfe. Das ist tadellose Theologie. Man kann auch sagen, daß unsere Kirche mit der Zeit gelernt hat, sich zu helfen zu wissen. Ich darf sagen, Boyd, daß ich auf den guten Verlauf der Dinge vertraut habe, und Dr. Willmark, den Dekan unserer hiesigen medizinischen Fakultät, gebeten habe, rasch bei uns hereinzuschauen und Ihnen den medizinischen Eid abzunehmen. Er haßt unsere Einmischung in sein Gebiet, er mogelt beim Damespiel, er flucht – aber er ist ein lieber, reizender Mensch.“
Boyd runzelte die Stirn, während er wartete. Wenn ein anscheinend so sanfter Mann wie O’Neill mit soviel Macht ausgestattet war – über wieviel Einfluß verfügte dann erst die gesamte Kirche? Die Mediziner hatten schon immer als der bei weitem unantastbarste Berufsstand gegolten. Wenn er kontrolliert werden konnte – wieviel mehr lag dann darüber hinaus im Einflußbereich dieser seltsamen Kirche?
„Der Kongreß darf keinerlei Gesetz verabschieden, das Rücksicht auf eine etablierte Glaubensgemeinschaft nimmt“, sagte er. „Wenn ich mich recht erinnere, stand dies sinngemäß früher in der amerikanischen Verfassung. Was nicht ausschließt, daß es umgekehrt durchaus möglich ist, oder nicht?“
O’Neills Augen wurden wachsam, und aller Spaß verschwand aus seiner Miene. „Sehr pfiffig, Boyd – aber zutreffend. Das gilt noch so wie früher, obwohl inzwischen einige Verfassungsänderungen vorgenommen wurden. Bei der gegenwärtigen Bevölkerungszahl eine repräsentative Demokratie mit freien Wahlen zu erhalten, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Es gibt nach wie vor einen Präsidenten und den Kongreß, aber unsere Kirche sieht ein, daß Wahlen außer Kraft gesetzt werden müssen, weshalb sie auch jedesmal deren Terminverschiebung dekretiert. Als Folge davon werden alle Ämter wahrscheinlich erblich werden, obwohl wir es noch für notwendig erachten, Neuwahlen stattfinden zu lassen, wenn jemand sich als moralisch untragbar erweist. Sonst aber greifen wir nur sehr wenig ein.“
Das war auch gar nicht nötig. Die lange in ihren Ämtern befindlichen Parlamentarier wußten genau, daß sie ihr Mandat niemals in freien Wahlen wiedererringen würden. Das verfeinerte Drohmittel, keine Wahlen zuzulassen, machte sicher jeden Kongreßabgeordneten gefügig. Es war eine perfekt ausgeklügelte Absprache.
Die Tür öffnete sich, und herein trottete ein kleingewachsener, nervöser Mann. „Guten Morgen, Danny“, begrüßte er den Bischof. „Ist das der Streikbrecher, den du als Gewerkschaftsführer verkaufen willst?“
„Nein, das ist unser marsianischer Doktor“, berichtigte O’Neill ihn. „Wir dachten uns, die Ärzteschaft solle ihm freundlicherweise auch bei uns diesen Titel gewähren. Es gibt dafür natürlich keinen Präzedenzfall, aber ein Akt von Höflichkeit scheint mir hier angebracht zu sein.“
„O verflixt“, fluchte Willmark, „willst du mir schon wieder etwas aufschwatzen? Nun, junger Mann, wollen mal sehen, ob
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