Das elfte Gebot
übel waren. „Eine Art Rückversicherung für schlechtere Zeiten“, erklärte Harry, als hätte er bemerkt, daß Boyd sich fragte, wie er beide Zimmer bezahlen konnte.
Drinnen war seine Wohnung fast attraktiv. Es war sauber, und Harry hatte wahre Wunder mit Altmaterialien vollbracht, aus denen er das gesamte Mobiliar zusammengezimmert hatte. Seine Gattin war eine einfache Frau, wahrscheinlich ein paar Jahre älter als er, die sich sehr freute, Harrys Freund kennenzulernen. Da waren außerdem vier Jungen, alle über zehn Jahre alt, und zwei jüngere Kinder, die verängstigt und kränklich wirkten – die Kinder von Harrys Schwester.
May, die Schwester, war eine Überraschung. Ihr Gesicht war erstaunlich, denn es hätte außerordentlich hübsch sein können, unter entsprechenden Umständen, doch der Körper war fast ebenso erstaunlich häßlich. Kurze, deformierte Beine führten zu einem Torso, der einem gekrümmten Rückgrat folgte und der zusätzlich von schwabbeligen Fettwülsten entstellt wurde. Ein Arm war verkümmert. Neben ihr fiel die durchschnittliche Gestalt ihres Mannes kaum auf.
Mrs. Harry – wie, zum Teufel, lautete denn nur ihr Nachname, fragte Boyd sich – hatte den kleineren der beiden Räume ausgeräumt, und dort hinein dirigierte sie nun Boyd und May.
Ihm fiel auf, daß die Frau schon seit mehreren Monaten schwanger sein mußte. Ihre Haut war fleckig, sie hatte dunkle Ränder unter den Augen. Boyd öffnete die Tasche, deren Inhalt er hastig zusammengesucht hatte, und fand schließlich die Gerätschaften, um ihre Augen zu untersuchen; ohne Drogen, die die Pupillen weiteten, konnte er sich nicht sicher sein, doch die roten Äderchen erinnerten ihn nur zu sehr an ein Bild, das er in einem der Bücher seiner Großmutter gesehen hatte. Das Licht hinter ihrem Ohrläppchen enthüllte eine leichte Anämie, die allerdings kaum gefährlich sein und keinesfalls all die anderen Symptome hervorgerufen haben konnte. Dies hier war nicht sein Metier, das wußte er, doch die Intuition kam ihm wie beim Betrachten des Nukleus einer neuen Zelle zu Hilfe.
„Hatten Sie diese Symptome auch während Ihrer vorherigen Schwangerschaften?“ fragte er. „Oder wurde es mit jedem Mal schlimmer?“
„Es wurde schlimmer“, gestand sie. Ihre Stimme hätte erfreulich klingen können, ohne den Unterton der Verzweiflung darin. „Dieses Mal wird es mich umbringen, nicht wahr?“
Dann sprudelte alles in einem Rutsch aus ihr heraus. Sie hatte sich verschiedenes zusammengereimt, hatte auch das eine oder andere von Nachbarn gehört. Irgend etwas in ihrem Körper und in dem des Fötus vergiftete sie beide. Sie hatte ihr zweites Kind fast verloren, sie hatte sich von dieser Geburt nie mehr völlig erholt. Buzz, ihr Mann, fürchtete so sehr um ihr Leben, daß sie danach fast nichts mehr miteinander gehabt hatten. Das hatte zu einer ganzen Reihe von Streits und Szenen geführt, bis schließlich das Unausweichliche geschehen war. Und dabei hatte sie ihn übertölpelt, wenn man ihren eigenen Worten glauben durfte. Hinterher waren die Streitereien nur noch heftiger geworden. Er hatte in der Zwischenzeit aber nichts mehr gesagt, und sie befanden sich mittlerweile in einem Stadium, wo selbst das Streiten vergeblich war. Sie kannten nur noch die verzweifelten Bemühungen sicherzustellen, daß dem Kind nichts passierte. Sie akzeptierte ihren eigenen Tod als unausweichlich.
„Aber Sie haben sich vorsätzlich auf eine neuerliche Schwangerschaft eingelassen?“ fragte Boyd.
Sie nickte. „Ich bin eine verheiratete Frau und außerdem eine gute Christin“, antwortete sie matt.
Seine Hände zitterten, als er seine Tasche wieder schloß und hinausging. Er war nicht aufgelegt zum Streiten. Der Rikschastand war direkt draußen, Harry nahm seine Schwester, während ein anderer Fahrer Boyd und Buzz transportierte.
In den übervölkerten Städten der Erde machte ein guter Arzt meistens Überstunden. Willmark war noch immer in seinem Büro.
„Sie sagten mir, beim nächsten Mal sollte ich gleich zu Ihnen kommen“, sagte Boyd zu ihm. „Ich nehme Sie beim Wort.“
Willmark stand hinter seinem Schreibtisch auf, und Boyd erwartete eine Explosion. Doch der ältere Mann ging ganz einfach zur Tür und studierte die drei Wartenden. Als er die Tür wieder geschlossen hatte, klang seine Stimme professionell. „Erzählen Sie mir, was los ist.“
Er hörte ruhig zu, nickte bei manchen Punkten und lächelte, als Boyd schließlich zugab, daß es
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