Das elfte Gebot
Tee bezeichnete.
„Ich wollte gerade sagen, es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht wieder zu Diensten sein kann, aber das wäre eine Lüge. Mein Assistent ist krank, und ich mußte eine Missa Solitaria abhalten.“ Er schüttelte langsam den Kopf. „Als ich noch jünger war, egal ob krank oder gesund, war ich am Altar. Doch den Jungen fehlt die Glaubensstärke ihrer Eltern. Trotzdem überleben wir. Hier, in diesem schmalen Fleckchen regiert noch immer Clemens – für das Königreich Gottes.“
„Wie können Sie beweisen, Gott auf Ihrer Seite zu haben?“ fragte Boyd.
Er hatte seine Übelkeit bis zu einem tolerablen Maß herausgeschwitzt, ganz verschwunden war sie aber noch nicht. Eine Welt, in der die Herrschenden eine Tugend aus ihrer eigenen Zeugungsunfähigkeit machten und die Massen angehalten wurden, sich zu vermehren, bis die Geburt der Beginn eines langsamen und häßlichen Todes war, war schon schlimm genug. Aber eine Welt, in der die Priester das Leben glorifizierten und im gleichen Atemzug einer Mutter das Recht auf eben dieses Leben absprachen, das war unmöglich. Er erkannte die theoretische Dichotomie seines eigenen Standpunktes – zum einen rebellierte er über die Unzahl der Lebewesen auf dieser Welt, zum anderen wollte er jedes individuelle Leben retten. Doch der Fehler in seiner Ethik lag nur in der Perversion der Welt, die andere geschaffen hatten.
Semper hatte die ganze Zeit geschwiegen, doch nun sah er auf. „Das ist eine schwere Frage, Boyd, denn Sie fragen nach einem Beweis, ohne zu glauben, und das ist ein bedeutungsloser Beweis. Aber vielleicht gelingt mir die Beweisführung. Vor langer Zeit determinierte die Kirche viele Dinge als gut oder böse, das ist Ihnen ja bekannt. Die Schöpfung ist gut – und zwar gut in einem höheren Sinne wie etwa: Gott ist die Schöpfung. Das Böse nicht. Studieren Sie einen bösen Herrscher, dann werden Sie das sehen. Das Böse kann verspotten, nachahmen oder höchstens borgen – wirklich schöpferisch sein kann es nicht. Einst erschufen wir vom wahren Glauben eine große Kultur und die Wurzeln der Zivilisation. Oh, ja, die Protestanten haben auch dazu beigetragen, doch sie taten dies, indem sie borgten und stahlen, was wir entdeckt hatten. Nun, vor zweihundert Jahren haben die Anhänger Bonafortes ihre Häresie über die Welt gebracht. Aber was haben sie geschaffen? Sie sind abgefallen von dem großen Erbe, das wir ihnen hinterließen, die Geschichte wird das beweisen. Sie können nichts erschaffen, nicht schöpferisch tätig sein, aber wir konnten es. Ist das nicht Beweis genug?“
„Klingt nicht schlecht“, gab Boyd zu. „Wenn man das Grundpostulat akzeptiert. Aber wie können wir wissen, ob die Schöpfung wirklich gut ist? Ist das gesamte Universum gut, böse oder neutral?“
Der alte Mann seufzte. „Der Stolz der Vernunft! Immerzu ist es der Stolz des Menschen, der zu richten sucht, was er nicht verstehen kann. Boyd, Sie können niemals lernen, wenn Ihr Herz verblendet ist vom Stolz und hart gegen den Glauben. Knien Sie nieder. Betrachten Sie Ihr eigenes Ich und lernen Sie die Demut. Und dann, aus diesem Gefühl der ehrenvollen Demut und dem Bewußtsein der eigenen Winzigkeit heraus – öffnen Sie Ihr Herz. Suchen Sie die Gnade, dann werden die Beweise sich von selbst einstellen. Ich weiß das. Und Sie können es auch erfahren. Aber nicht jetzt, fürchte ich. Sie hören mir zu, doch der Stolz und der Hochmut in Ihrem Herzen sagen Ihnen, daß Sie die Unwahrheit in meinen Worten durchschauen können. Sie haben keine Demut, Sie können mir nicht glauben. Nein, Boyd, ich kann nicht alles beweisen. Sie müssen die Beweise schon selbst finden.“ Er lächelte müde. „Weshalb sind Sie hergekommen? Sicher nicht wegen der Segnung. Und was können wir Ihnen sonst schon bieten?“
„Entkommen, vielleicht. Ich bin dieser Welt des elften Gebots müde, Vater Semper.“ Er stand auf und ging die paar Schritte, die die Größe des Raumes zuließ, hin und her. „Ich ertrage nicht mehr viel und ich weiß, daß es auch noch andere Welten hier geben muß. Sie sind in Kontakt mit einer davon. Sie kennen die Wege, die nach Europa führen. Bringen Sie mich dorthin.“
Der alte Mann ballte die Fäuste, bis die Knöchel weiß hervortraten. „Müssen wir diese Wege kennen? Man verweigert uns Radios und Funkgeräte, also können wir keine Botschaften von Übersee hören. Und es ist nunmehr schon über zehn Jahre her, seit der letzte Bote uns von der Heiligen
Weitere Kostenlose Bücher