Das elfte Gebot
Zufall entkommen, doch dieser Segen hatte sich schon lange als Fluch erwiesen. Die Stadt war übersät mit den Ruinen alter Gebäude und den Überbleibseln von Wolkenkratzern. Alles war sorgfältig zusammengeflickt worden, doch einige Erdbeben hatten den Eindruck, diese Reparaturen würden den Gebäuden eine gewisse Standfestigkeit verleihen, bereits wieder verwischt. Rund um den großartigen Hafen war die Stadt unglaublich verfallen und formlos, sogar die Laboratorien waren schäbig und uralt. Der Raum, in dem Boyd vor zwanzig Zytologen und Technikern die Handhabung seiner Kulturen erläuterte, hatte weitläufige Sektionen, die rot markiert waren, um anzudeuten, daß Einsturzgefahr bestand. Er hätte sich ein besseres Bild von der Stadt gewünscht, doch mit jeder verstrichenen Stunde sank sein Interesse. Er sehnte bereits den nächsten Tag herbei, wenn er zu der Umgebung, die ihm inzwischen etwas vertraut geworden war, zurückkehren konnte.
Der Speisesaal der Hotelbruchbude, die er bewohnte, war ziemlich leer, und er konnte einen Tisch nahe am Fenster ergattern. Er beendete gerade seine Mahlzeit, als ihn ein Schatten aufblicken ließ.
Neben dem anderen Stuhl stand ein großer, alter Mann, in eine einfache, grüne Robe gekleidet. Das Haar des Priesters war weiß, sein Gesicht unglaublich zerfurcht, doch seine Augen waren erstaunlich klar – klar und bitter. Er verbeugte sich förmlich. „Dr. Jensen, würden Sie einem alten Mann die Ehre antun, eine Flasche Wein mit ihm zu trinken – guten Wein aus meinem eigenen Anbau?“
Und schon standen eine staubige Flasche und zwei Gläser auf dem Tisch. Nach Boyds unschlüssigem Nicken nahm er auf dem anderen Stuhl Platz und schenkte eine dunkelrote Flüssigkeit ein. Dann hob er einen der Kelche. „Hal kaor“, sagte er leise. „Der alte, legendäre Gruß unter Marsianern!“
Boyd stürzte den Wein förmlich hinunter, und von den wundervollen Geschmackseindrücken, die seine Nase empfing, merkte er kaum etwas. Seine Augen glitten zu dem ausgestreckten Arm, wo eine verblaßte Tätowierung das Symbol MX227 zeigte.
„Sie haben mich vor über fünfzig Jahren vom Mars fortgeschafft. Ja, Dr. Jensen, ein paar überleben sogar hier, obwohl die anderen meiner Meinung nach schon alle tot sind. Aber davon möchte ich lieber nicht sprechen.“
Boyd nickte und hielt die Fragen, die sich in seinem Kopf anstauten, zurück. „Natürlich, Vater …“
„Epstein. Vater Epstein. Ich wurde auf dem Mars zum Ökologen ausgebildet. Daher mußte ich hier notwendigerweise ein Priester werden. Denn sogar das ist möglich – wenn auch nicht ganz einfach. Aber nichts hier ist einfach.“ Einer seiner Mundwinkel hob sich gezwungen, dann machte er eine Geste der Gleichgültigkeit. „Was dachten Sie über unseren Planeten, auf Ihrer Reise vom Osten hierher?“
„Ich habe nicht besonders viel gesehen. Und das meiste, das ich sah, ergab keinen Sinn für mich“, gab Boyd zu.
„Da waren Sie vielleicht ganz glücklich dran“, sagte Epstein zu ihm.
Der alte Mann füllte erneut die Gläser und wandte seinen Blick langsam zum Fenster. Seinem Blick folgend, bemerkte Boyd erstmals, daß sie sich auf einem erhöhten Punkt befanden, von dem aus man die meisten anderen Hügel der Stadt überschauen konnte, deren gelbe Lichter sich zum Ozean und der Bucht hin verloren.
„Ich will erheben meine Augen zu den Hügeln, von welchen meine Hilfe kommet“, zitierte Epstein leise. Dann seufzte er. „Aber es gibt keine Hilfe mehr für die Rasse der Menschen. Die Berge sind ihres natürlichen Schutzes beraubt, und ihre Substanz rinnt hinab mit den unkontrollierten Regenfällen und ergießt sich in die Täler und begräbt sie unter sich. Der Büffel und der Wolf sind aus den Savannen verschwunden, ebenso wie das Gras, das hier einst wuchs, trockener Staub ergießt sich wie eine zermalmende Flut über alles, zur Freude des Windes, welcher ihn aufwirbelt. Der Puma bewohnt nicht mehr seine Höhle, der Horst des Adlers ist verlassen. Die natürlichen Feinde sind ausgestorben, und ohne diese säugen die Herden die schwachen Tiere unter ihren Jungen, um noch mehr Schwache hervorzubringen, bis kein Tier mehr lebensfähig sein wird. Ich liebte diesen Planeten, lange bevor ich hierherkam, Dr. Jensen. Ich bewundere ihn noch immer für das, was er war. Ein Wunder des Himmels, diese Welt, dieses Eden, das dem Menschengeschlecht geschenkt wurde. Doch was die Menschen getan … Verzeihen Sie mir, ich gerate ins
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