Das elfte Gebot
überwinden. Er schüttelte den Kopf, um wenigstens kurzzeitig wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. „Natürlich. Aber Sie schreiben mir besser seinen Namen und seine Adresse auf, damit ich es nicht vergesse.“
„Vielen Dank, Dr. Jensen. Sie werden sich an ihn erinnern, wenn er auch, soweit mir bekannt ist, keine feste Adresse hat. Aber er wird Sie finden.“ Epstein sah dem jüngeren Mann in die Augen. „Die Menschen kennen ihn als den Blinden Stephan.“
13
Am nächsten Morgen hatte Boyd einen leichten Brummschädel, verbunden mit einer eher konfusen Erinnerung an sein Gespräch mit Epstein. Seine Kopfschmerzen bekämpfte er mit einem Pulver, und sein Magen hatte sich nach dem Frühstück von ganz allein wieder beruhigt. Während der Fahrt zum Flughafen fühlte er sich bereits wieder relativ normal.
Larkin war noch mit den üblichen Vorbereitungen eines Piloten beschäftigt. Er überprüfte die Beleuchtung, zündete eine Kerze an und sprach ein Gebet vor dem Flug, doch das Flugzeug war unverschlossen, und die Diensttuenden erkannten Boyd. Er setzte sich hinein und sah zu seiner Überraschung, daß jemand ein Radio im Kontrollraum angebracht hatte.
Larkin ließ sich in den Pilotensitz fallen, während Boyd noch immer den Antennendraht betrachtete. „Der Kerl, der das hier eingebaut hat, hat geschworen, man würde damit landesweit Signale empfangen können“, sagte der Pilot. „Um nichts in der Welt möchte ich mir die Rede des Blinden Stephan entgehen lassen. Bei Ihnen alles klar, Doktor?“
Boyd war bereit, doch mit dem Flugzeug war das wieder eine ganz andere Sache. Als Larkin endlich alles überprüft hatte und der Motor warmgelaufen war, war eine halbe Stunde vergangen. Dann endlich hoben sie ab. Es wurde dunkel, Boyd erkannte, daß er nun wieder nicht die Berge sehen würde. Doch darüber war er fast glücklich; er hatte schon mehrmals Bilder von ihnen gesehen, aus den alten Zeiten, und er bezweifelte, ob die kahlen, terrassenartig angelegten Berge seinem Bild entsprechen würden. Er lehnte sich in seinem Sitz zurück und versuchte zu schlafen, während das Flugzeug monoton ostwärts dröhnte. In Topeka erwartete sie eine Mahlzeit – Bohnen und Haferflocken, dazu ein bißchen Krill. Das Gespräch drehte sich hauptsächlich um die erwartete Radiosendung; offensichtlich erregte alles außerhalb des üblichen Programms des Regierungssenders die Aufmerksamkeit der Leute. Manche murrten zwar über das Ausfallen der üblichen Sendungen, jener moralisierenden, einfältigen Schmierenkomödien, in denen Priester, Mönche und Nonnen immerzu alle Probleme lösten, doch die meisten schienen sich mehr für die Rede zu interessieren. Boyd begann darüber zu spekulieren, wie der Blinde Stephan wohl diese nationale Übertragung anpacken würde.
Sie befanden sich bereits wieder in der Luft, als die Sendung begann, und das Radio übertrug sie perfekt. Doch die Eröffnung spielte sich ganz anders ab, als Boyd das erwartet hatte. Der Blinde Stephan begann mit voller Stimme zu sprechen, sein Singsang schien aus den Lautsprechern zu dröhnen und zu hämmern.
„Ihr sollt hören von Krieg und Gerüchten über Kriege. Nation wird sich gegen Nation erheben, Königreich gegen Königreich. Dann werden sie großen Kummer über euch bringen und euch töten. Und dann werden viele gekränkt und beleidigt werden und werden einander betrügen und einander hassen. Und da die Ungerechtigkeit regieren wird, wird die Liebe von vielen enden. Doch derjenige, der gläubig ist bis zum Ende, der soll gerettet werden.
Lasset die Schwachen und die Halbherzigen ruhig ihre Köpfe verbergen. Laßt es zu, daß sie weder gen Westen noch gen Osten blicken. Laßt sie getrost das uralte Erbe vergessen und sich nicht erinnern an die Verheißung des Herrn, der schwor, die Saat der Erwählten über die ganze Erde zu verbreiten, selbst über die Sterne des Himmels. Doch zu der Saat Adams, welcher die Herrschaft über alles auf Erden haben soll, rufe ich aus der Finsternis: Gürtet euch mit eurem Schwerte und ziehet in den Krieg, zur Vergeltung Gottes!
Bereits im Himmel kannte man den Krieg – selbst im Himmel war er bekannt. Und der große Drache, der gelbe Drache, der seine Schwingen der Dunkelheit und seinen feurigen Atem der Ungerechtigkeit über der Erde ausbreitete, jene alte Schlange, wurde vertrieben. Sie überwanden sie durch das Blut des Lamms und durch das Wort ihres Zeugnisses; sie hingen nicht an ihren Leben
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