Das Elixier der Unsterblichkeit
eines Schuhmachers, der nur zwei Finger an der rechten Hand hatte und schwerhörig war; er starb früh an der Ruhr, ohne mehr zu hinterlassen als den poetischen Klang seines gallischen Nachnamens: de Narbonne. Aber Judah machte sich nichts daraus, dass Judit keine Mitgift erhalten hatte, er heiratete sie, weil er so verliebt in sie war. Darüber runzelten viele die Stirn, nicht nur, weil man erwartet hatte, er würde die Tochter des reichsten Kaufmanns der Stadt heiraten, sondern mehr noch, weil Liebe zu jener Zeit in diesem Teil der Welt ein weder geachtetes noch sonderlich bekanntes Phänomen war.
Judah und Judit ähnelten einander. Es bestand ein innerer Gleichklang zwischen ihnen, eine Fähigkeit, in gemeinsamen Bahnen zu denken und sich den gleichen Impulsen hinzugeben. Oft suchten sich auf dem Tisch ihre Hände, begegneten sich ihre Fingerspitzen, nur um der Berührung willen. Es war selbstverständlich für sie, dass sie zusammengehörten, es lag in der Natur der Dinge.
Judah pflegte zu sagen: »Judit trug einen Teil meines Wesens in sich, und der andere Teil wollte sich damit vereinen.«
Im zweiten Sommer nach der Hochzeit wurde Judit schwanger. Im Frühjahr gebar sie eine Tochter, die den Namen Edita erhielt. Das Mädchen hatte einen schiefen Kopf und starb nach vier Tagen. Ein Jahr später brachte Judit einen Sohn zur Welt. Auch er lebte nur vier Tage. Judit weinte und war untröstlich. Judah versuchte, ihr mit heiteren Anekdoten aus der Thora wieder Mut zu machen.
Im fünften Jahr gebar sie einen zweiten Sohn. Während er seinen ersten Atemzug tat und seine Huldigung ans Leben herausbrüllte, tat sie ihren letzten.
»Verblutung«, konstatierte die Hebamme, eine erfahrene Frau, deren Kunst aber an diesem Morgen nichts vermochte.
Als Judah hörte, dass Judit tot war, erbleichte er und der kalte Schweiß brach ihm aus. Was sollte er tun – weinen über den Verlust seiner Ehefrau oder lachen vor Freude über die Gnade, die ihm widerfahren war, endlich einen Sohn bekommen zu haben?
»Meine geliebte Frau lebt nicht mehr«, murmelte er kaum hörbar. »Sie war die Beste in der Welt. Nie mehr werde ich ihr schönes Gesicht schauen.« Er blickte gen Himmel und hob die Stimme: »O mein Herr, was habe ich Böses getan? Warum strafst du mich so hart? Warum hast du mir Judit genommen?«
Der Himmel schwieg. Es war Judah klar, dass seine Fragen nicht beantwortet werden würden. Denn er verstand das Rätsel des Schweigens: Wo immer der Allmächtige sich befindet, herrschen absolutes Schweigen, ein gesegnetes Licht und Unendlichkeit. Aber in diesem Augenblick wünschte er nichts sehnlicher, als eine Antwort zu erhalten.
Die Hebamme holte das Neugeborene, das zottig war wie ein Bär. Judah sah sie ratlos an und bekam kein Wort heraus. Sie konnte offenbar seine Gedanken lesen, denn sie versuchte sogleich, ihm Trost zu spenden, indem sie ihn an den Kometen erinnerte, der sich am Abend zuvor am Himmel offenbart hatte.
»Er ist behaart am ganzen Körper geboren«, sagte sie, »und ich muss dich, lieber Rabbi, kaum daran erinnern, was in unseren heiligen Büchern steht: ›Wer haarig geboren ist, wird im Leben Großes ausrichten.‹ Der Komet zeugt davon, dass dein Junge einem König dienen wird.«
Judah sah das Kind an und entdeckte zu seinem Entsetzen, dass der Kleine eine unfassbar große Nase hatte. »Armer Junge«, seufzte er. Er fürchtete, dass mit dem Kind etwas nicht in Ordnung sei, und musterte es ängstlich. Doch er sah nichts, was Anlass zur Sorge geben konnte, abgesehen von dem vielen Haar und der gigantischen Nase.
Da äußerte die Hebamme ein paar Worte, vielleicht nur aus Freundlichkeit, Worte, die durch die Fähigkeit der erfahrenen Frau, sich des einfachen Ausdrucks zu bedienen, um etwas Großes zu sagen, dem Rabbi das Gefühl vermittelten, Zeuge eines Wunders geworden zu sein: »Der Allmächtige hat dir die größte aller Gaben geschenkt, einen wohlgestalten Sohn.«
Judah änderte den Tonfall: »Mein kleiner Liebling, wie schön du bist. Guter Gott, wie dankbar bin ich, dass Du mir einen so prächtigen kleinen Jungen geschenkt hast. Dein Name soll Baruch sein, der Gesegnete«, sagte er und brach in Tränen aus.
Am Abend vor Baruch Halevys Geburt – es war das Jahr 1129 – wurde der Oktoberhimmel von einem Kometen mit doppeltem Schweif erleuchtet. Er wogte wie ein blaues Feuer über Südeuropa. Die Menschen fielen auf die Knie und beteten zu Gott. Hunde bellten, Frauen menstruierten, Dächer
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