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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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denen die Farbe abblätterte, unverkaufte Bilder hingen. Die Wochen vergingen, und die Hitze nahm nicht ab. Besonders in der Nähe des Fensters, wo der Künstler die Familie plaziert hatte, war es schwer auszuhalten. Außerdem war Meesters Körpergeruch nicht leicht zu ertragen; jeden Morgen stellte er sich mit bloßem Oberkörper ungewaschen und ungepflegt hinter die Staffelei. Doch keiner klagte, nicht einmal, als die Farben gemischt wurden und es beißend und unangenehm roch.
    Meester legte den Grund mit dem Messer und breiten Pinseln, die er an den Hosen abwischte. Er trug die Farbe dick mit schwungvollen Bewegungen auf, Schicht um Schicht.
    Den ganzen Tag sagte keiner ein Wort. Nur Frau Spinozas Husten störte die Ruhe. Sie hatte schwache Lungen, und die starken Gerüche im Atelier verursachten ihr Erstickungsgefühle und Hustenanfälle. Dies irritierte Meester über die Maßen, zumal er einen intuitiven Widerwillen gegen sie empfand.
    Schon vor ihrer ersten Begegnung hatte Meester geahnt, dass es ihm schwerfallen würde, Frau Spinoza zu ertragen, denn er erinnerte sich an die Worte seines Freundes Uriel, dass sie einen unversöhnlichen Hass gegen ihn genährt habe und jedes Mal, wenn er versuchte, mit seinem Halbbruder und seinen Neffen in Kontakt zu kommen, wütend geworden sei und Verwünschungen gegen ihn ausgestoßen habe.
    Wenn er an den Abenden hinter ein paar entkorkten Branntweinflaschen in seiner Lieblingskneipe saß, machte Meester sich oft über sie lustig und gab höhnische Kommentare über ihr lächerliches Aussehen, ihre fetten Hände und ihre blassen Pausbacken zum Besten.
IM HAUS DES TODES
    Eines Tages fand die Magd Sjoukje Meesters Lieblingstier tot im Keller. Es war ein lustiger kleiner Schimpanse, den er eines Abends, als er betrunken zu einer Prostituierten im Hafen unterwegs war, für zehn Groschen gekauft hatte. Es erwies sich als einer seiner geglückteren Einkäufe, denn das kleine Tier – das er nicht ohne eine gewisse Ironie Caravaggio nannte – hatte ihm viele Momente herzhaften Lachens beschert. Ein paar Minuten zusammen mit dem Schimpansen reichten immer aus, um seine düstere Stimmung zu vertreiben.
    Der Verlust setzte Meester sehr zu. Weder die Arbeit noch der Branntwein vermochten ihn aus der Niedergeschlagenheit zu reißen, in die er nach dem Tod des kleinen Schimpansen verfallen war. Er verlor die Konzentration und bat Michael Spinoza, die Arbeit für eine kurze Zeit unterbrechen zu dürfen.
    Der Tod Caravaggios erwies sich als Vorbote noch schmerzhafterer Ereignisse in Meesters Leben. Wenige Tage später erlitt er einen weiteren Schlag: Seine kleine Tochter, die auf den Namen Cornelia getauft worden und erst wenige Wochen alt war, starb plötzlich nach einer Darmblutung.
    Im Haus Nummer 4 in der Jodenbreestraat gab es nur noch Raum für Tränen. Man sprach flüsternd und aß schweigend. Besucher waren nicht willkommen. Meester hatte diese strenge Trauer angeordnet. Er spürte Ohnmacht. Eine entsetzliche Angst hielt ihn Tag und Nacht wach. Er sah deutlich Caravaggios Gesicht, dann war es, als ob sich das Dunkel verdichtete, und es war ihm unmöglich, sich an das Gesicht zu erinnern, das seiner Tochter Cornelia gehört hatte. In den Nächten – all diesen schlaflosen Nächten, in denen er versuchte, sich Einzelheiten im Gesicht des Mädchens in Erinnerung zu rufen – sah er nur ein Dunkel. Woche auf Woche saß er im Atelier, einsam und schweigend, in unsäglichem Schmerz und herzzerreißender Trauer, versunken in überwältigende, bittere Gedanken. Er fühlte sich innerlich tot und glaubte, die Fähigkeit zum Malen verloren zu haben.
    Michael Spinoza hatte Nachricht erhalten, dass in Meesters Atelier nicht gearbeitet wurde, und sah ein, dass das Familienporträt nicht zu seinem Geburtstag fertig werden würde. Geduldig wartete er bis Mitte September. Dann beschloss er, Meester zu besuchen und ihm in seiner schweren Zeit beizustehen.
    Das Leben hatte Michael Spinoza gelehrt, dass keine Trauer die letzte ist. Nur ein Jahr zuvor hatten er und seine Frau ein Neugeborenes verloren. Er wusste, dass nur eins Meester auf die Beine helfen konnte: wieder zu arbeiten.
    Ein unangenehmer Geruch hing im Atelier, und sämtliche Bilder waren der Wand zugedreht. Meester saß in einem Nachthemd und im offenen verschlissenen Morgenrock da. Michael Spinoza erkannte ihn kaum wieder. Er schien geschrumpft zu sein, war mager und gelb im Gesicht und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Es war

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