Das Elixier der Unsterblichkeit
gestorben war. Er wurde mit Pomp und Pracht in Ávila beerdigt, im Garten des Klosters Santo Tomás, wo er die letzten Jahre seines Lebens verbracht hatte. Das Kloster wurde 1494 errichtet. Es diente dem Großinquisitor als Heim und war zugleich Sitz des Tribunals des Heiligen Amtes. Vorher hatte dort ein jüdischer Friedhof gelegen, der auf Anordnung des Königspaares dem Erdboden gleichgemacht worden war. Die Grabsteine hatte man als Bausteine für das mächtige Kloster verwendet.
Dreihundertachtunddreißig Jahre lang durfte Torquemada in Frieden im schattigen Garten des Klosters Santo Tomás ruhen. Die Inquisition in Spanien wurde offiziell im Jahre 1834 abgeschafft. Zwei Jahre später öffneten Unbekannte das Grab des Großinquisitors, brachen den Sarg auf, nahmen die Knochenreste heraus und verbrannten sie.
6.
DER PHILOSOPH
BESUCH BEI MEESTER
An jenem warmen Vormittag im August des Jahres 1640, als Uriel Spinoza sich in schwarzer Verzweiflung und mit schweren Schritten zu dem Haus mit der Nummer 4 in der Jodenbreestraat in Amsterdam begab, wusste er nicht, dass er nur noch wenige Stunden zu leben hatte.
Meester war eine großzügige Natur. Wann immer Uriel Spinoza ihn in seinem prachtvollen Haus besuchte, beeilte Meester sich, ihm zu beteuern, wie ersehnt der jüdische Philosoph sei, und ließ die Diener den mit Kräutern gewürzten Branntwein hervorholen. Meester verachtete die Flasche nicht. Er liebte das angenehme Gefühl, das sich im Körper ausbreitete, wenn das Blut mit Alkohol vermischt wurde. Aber in Uriel Spinozas Kopf wallte schnell die Hitze auf, wenn er trank.
Der Maler und der Philosoph fühlten sich wohl miteinander. Ihre Persönlichkeiten waren unterschiedlich, aber beide waren der Meinung, dass Gegensätze bereichern, während zwischen Menschen, die einander gleichen, häufig Neid, Rivalität und Feindschaft aufkommen. Aufgrund ihrer Verschiedenartigkeit hatten sie das Gefühl, sich sehr nahe und zugleich auf eine fruchtbare Art und Weise weit voneinander entfernt zu sein.
Viele Abende saßen sie in der untersten der fünf Etagen des Hauses zusammen vor dem Feuer. Sie sprachen stets von großen Dingen. Ihr Gesprächston war meistens gedämpft, und der Maler war der Auffassung, dass die Argumentationen des Philosophen einzigartig waren.
Für Meester, der nur ein wenig gebildeter werden wollte, waren intellektuelle Subtilitäten oder sinnreiche Wortgeflechte uninteressant, er wollte Gedankengänge, die von Anfang an auf das Wesentliche abzielten. Nämlich darauf, wie die Talente der Menschen genutzt werden konnten, wenn ihr Handeln aus Liebe zur Schöpfung, mit Innerlichkeit und handwerklicher Bravour vollzogen wird, sodass sie durch die Arbeit einen Blick ins Himmelreich werfen konnten.
In Übereinstimmung mit großen Denkern früherer Zeiten neigte Uriel Spinoza dazu, hauptsächlich über Fragen nachzudenken, die die Vergeblichkeit der menschlichen Vernunft und die Unsterblichkeit der Seele betrafen. Obwohl er ausgebildeter Rabbiner war, nahm er nicht den Talmud und die Kabbala zu Hilfe, um Wissen und Einsichten in die großen Fragen des Daseins zu finden. Er studierte Aristoteles und Plinius, Seneca und Cicero, und anschließend pflanzte er ihre Gedankengänge und Lehren um und verknüpfte sie mit seinen eigenen. Er achtete genau darauf, nur das auszuleihen, was seine eigenen Ideen hervorhob, denn ein aufrechter Mann sollte nie versuchen, die Schwäche seiner Gedanken hinter der Autorität anderer Denker zu verbergen, und er betonte, wie wichtig es sei, dass jedes Individuum für seine Ansichten selbst einstehe.
Niemand in der Stadt lauschte mit solchem Ernst wie Meester den Argumenten, mit denen Uriel Spinoza seine kühnen Behauptungen über die Natur der menschlichen Seele und seine These untermauerte, die Welt sei kein unergründliches Mysterium, das nur von Gott durchschaut werden könne, sondern eine begreifbare Wirklichkeit.
Meinem Großonkel zufolge war Uriel ein Sonderling, dessen Charakter kaum jemanden zu näherer Freundschaft einlud. Selbst Menschen von seinem eigenen Fleisch und Blut – sein Halbbruder Michael und dessen Familie – waren der Ansicht, dass sein Wesen, von seiner Gelehrsamkeit abgesehen, nicht viel Glänzendes zu bieten hatte. Sie wandten sich von ihm ab. Die Juden in Amsterdams Gemeinde konnten Uriel nicht verzeihen, dass er äußerst gefährliche Ideen verbreitete, und deshalb musste er seine Tage verbringen wie ein Paria, bei fast allen
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