Das Elixier der Unsterblichkeit
offensichtlich, dass er sich lange nicht gewaschen hatte. Michael Spinoza sprach ihm sein Beileid aus und sagte, er verstehe Meesters schwere Lage, weil er selbst einen ähnlichen Verlust erlitten habe. Er merkte sogleich, dass das Selbstmitleid des Malers in lähmende Bitterkeit umgeschlagen war.
»Der Tod ist in meiner Familie ein unsichtbarer Mitbewohner gewesen«, sagte Michael Spinoza. »Daran lässt sich nichts ändern. Als wir im vergangenen Jahr einen Säugling verloren haben, packte mich die Wut und ich wollte auf die Straße laufen, meine Trauer herausschreien und die ganze Welt hören lassen, wie schlecht ich von meinem Herrn behandelt worden war, obwohl ich seine Gesetze immer befolgt hatte. Glauben Sie mir, ich weiß, wie es sich anfühlt, einen Menschen zu verlieren, den man liebt. Aber das Leben geht weiter, und glücklicherweise heilt die Zeit alle Wunden.«
Meester saß eine Weile stumm da. Er schien abwesend zu sein. Doch plötzlich begann er zu sprechen, schnell und ohne Unterbrechung. Er stellte Fragen und beantwortete sie selbst. Seine Worte strömten durch das Atelier wie Wasser. Er machte Rechnungen auf, rechtfertigte sich, murmelte, klagte gegen das Schicksal. Alles, was er zurückgehalten hatte, auch seine verborgensten Gedanken, kam jetzt ans Licht. Mochte sein Besucher zuhören oder nicht, ihm war es egal. Er schien sich nicht einmal dessen bewusst zu sein, dass die Worte ununterbrochen aus ihm herausrannen.
Michael Spinoza hob einige Male die Hand, kam aber nicht zu Wort. Schließlich stand er auf und ging zur Tür. »Ich muss jetzt gehen«, unterbrach er Meesters Redestrom. »Ich habe ein wichtiges Treffen im Gemeindehaus.«
Meester geriet ins Stocken. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Obwohl er sich anstrengte, es zurückzuhalten, hoben sich seine Mundwinkel.
»Sie verfügen über eine Gottesgabe«, sagte Michael Spinoza mit seiner mildesten Stimme. »Sich ihrer zu bedienen, in all der Trauer, kann Ihren Schmerz lindern. Dank Ihrer unerschütterlichen Disziplin haben Sie die höchsten künstlerischen Höhen erreicht. Ich rate Ihnen, so schnell wie möglich an Ihre Staffelei zurückzukehren.«
EINE KRÄNKUNG
Später am gleichen Nachmittag hob Meester den Pinsel an die Leinwand. Das Gesicht des kleinen Wesens, das ein paar Wochen lang seine Tochter gewesen war, hatte er mit dem Blick nicht erforschen können. Caravaggio dagegen sah er deutlich vor sich. Er beschloss, ein Porträt des kleinen Tieres zu malen, das ihn so oft zum Lachen gebracht hatte. Weil er kein Geld für eine neue Leinwand hatte, malte er den Kopf des Schimpansen auf den Körper eines der Kinder Spinoza.
Es war eine Kränkung, die auch das sanfteste Gemüt in Aufruhr versetzt hätte. Als Michael Spinoza entdeckte, dass auf Bentos Gestalt ein Affenkopf saß, war er maßlos enttäuscht. Seine Frau konnte kaum die Tränen zurückhalten und schluchzte, Meester habe nicht die leiseste Ahnung davon, was wahre Kunst sei. Die Kinder lachten und trieben ihren Scherz mit Bento, der verzweifelt war.
Meester war in aufgeräumter Stimmung gewesen, als er zu Michael Spinozas Haus gegangen war, um sein Werk zu zeigen. Doch seine Stimmung änderte sich schnell, denn er ertrug es nicht, von Frau Spinoza angegriffen und wie ein Idiot behandelt zu werden. Vor allem wollte er sich nicht vorwerfen lassen, nicht zu wissen, was Kunst eigentlich war. Das sagte er auch geradeheraus mit einer Stimme, die vor Zorn bebte, und er fühlte, dass dies die richtige Gelegenheit war, etwas zum Ausdruck zu bringen, was zu sagen ihm schon seit vielen Jahren am Herzen lag, was er jedoch nicht laut hatte sagen wollen, nämlich dass auf der ganzen Welt kein anderer so malen könne wie er.
»Wir haben nicht die Absicht, Sie zu verletzen oder Ihre Kunst in Frage zu stellen«, erklärte Michael Spinoza, der einen aufreibenden Konflikt vermeiden wollte. Da er fürchtete, seiner Frau könnten weitere Beleidigungen einfallen, fügte er rasch hinzu: »Wir haben große Hochachtung vor Ihrem Genie. Seit Jahren bewundern wir Ihre Werke und Ihre künstlerische Meisterschaft. Deshalb habe ich mich an Sie gewandt. Aber meinen Sohn als Schimpansen abzubilden, das muss eine der absonderlichsten Ideen sein, die jemals in einen Künstlerkopf gefahren ist.«
»Sie haben mir volle künstlerische Freiheit versprochen«, entgegnete Meester zornig. Er war gekränkt, und seine Stimme ließ einen aufflammenden Hass erkennen. »Wenn Ihnen dieses Bild nicht gefällt,
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