Das Elixier der Unsterblichkeit
dann können Sie stattdessen selbst eins malen. Aber bilden Sie sich nicht ein, Sie wären dazu in der Lage.«
Dann nahm er das Bild und ging ohne ein Wort des Abschieds davon.
Einige Tage später schickte Michael Spinoza einen Brief an Meester, in dem er mit der Vertraulichkeit und der Verzweiflung eines Mannes, der sich einem Freund eröffnet, seine Enttäuschung über das Bild beschrieb. Er betonte, er wolle um jeden Preis weitere Missverständnisse vermeiden, bat Meester aber darum, ernsthaft die Möglichkeit zu erwägen, den Kopf des Schimpansen durch den Bentos zu ersetzen.
Meester war jedoch nicht zu erweichen. Er war beleidigt, weil das jüdische Paar die Frechheit besessen hatte, seine Kunst zu kritisieren, und bereute zutiefst, so viel Zeit mit der Familie Spinoza vergeudet zu haben. Gleichzeitig redete er sich ein, dass es klug gewesen sei, Caravaggio auf die Leinwand zu malen, denn auf diese Weise hatte er ein anderes und unschätzbares Meisterwerk geschaffen, das mit dem vergeistigten und selbstlosen Blick des Künstlers zu betrachten war und nicht mit den egoistischen und unsensiblen Augen des Kaufmanns. Deshalb beharrte er auf seinem Standpunkt und forderte Michael Spinoza auf, ihm unverzüglich die fünfhundert Gulden zu zahlen, die er ihm schuldig war. Er drohte mit gerichtlichen Schritten, falls das Geld nicht binnen einer Woche bei ihm einträfe.
Michael Spinoza weigerte sich, die zweite Hälfte des Betrags zu zahlen. Nachdem er vergebens alle Möglichkeiten ausprobiert hatte, um Meester zur Änderung seiner starren Haltung zu bewegen, ging er vor Gericht und ließ den Vertrag für ungültig erklären. Dagegen hatte er nicht das Herz, von dem hochverschuldeten Meester den Vorschuss von fünfhundert Gulden zurückzufordern.
Das Gemälde wurde, in grobes Packpapier eingeschlagen, bis zu Meesters Tod im Atelier aufbewahrt. Der Titel des Werks lautet
Caravaggio in Gesellschaft der Familie Spinoza
.
Mein Großonkel hatte nie die Möglichkeit, das Gemälde im Museum in Amsterdam zu sehen, aber er kannte es bis ins letzte Detail.
Er behauptete, dem Amerikaner Bernard Berenson, dem herausragenden Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts, seien die Tränen gekommen, als er das Bild zum ersten Mal sah, und er habe ausgerufen: »Wunder geschehen für den, der an sie glaubt.«
Später schrieb Berenson in seinem Buch
Seeing and Knowing
– ich habe es nicht selbst gelesen, sondern gebe nur die Worte meines Großonkels wieder: »Dies ist nichts Geringeres als das erste moderne Gemälde der Kunstgeschichte. Es handelt sich um eine epochale Arbeit, die mit ihrer beachtlichen künstlerischen Sprengkraft bahnbrechend war in der europäischen Kunst.«
DIE JUNGEN UND DER STEIN
Uriel Spinoza ließ sich durch die engen Gassen treiben, hier und da stolperte er über Abfallhaufen. Eine würgende Angst ließ nicht von ihm ab. Er litt unter der Hitze und wedelte sich mit dem Dokument, das er am Morgen vom jüdischen Rat Mahamad erhalten hatte, Luft zu.
Verstohlen blickte er in unbekannte Gesichter und suchte nach einem freundlichen Blick, nach Augen, die nicht angsterfüllt waren oder Distanzierung signalisierten. Er war bekannt in den jüdischen Vierteln. Die Menschen beobachteten ihn mit Misstrauen und Verachtung. Manche verhöhnten ihn, andere spuckten ihn sogar an. Alle wussten, wer er war: der Abtrünnige, der Ketzer, der vagen Gerüchten zufolge in Porto hoher Funktionär in der katholischen Kirche gewesen war.
Die Gedanken wirbelten durch seinen Kopf. Wer weiß etwas von einem anderen Menschen? Wer sieht, was sich auf dem Grunde eines Augenpaars oder hinter einem ausdruckslosen Gesicht verbirgt? Wer weiß, was in einer Seele ruht oder was sich noch tiefer, noch verschlossener findet, was ein Individuum in sich trägt, ohne selbst davon zu wissen?
Vor der großen Synagoge Esnoga kam er an einigen spielenden Jungen vorüber. Als er das Schreien der Kinder hörte, dachte er, ihr Leben sei weit von seiner eigenen Wirklichkeit entfernt. Er lebte, als wäre er immer schon erwachsen gewesen, ohne jemals Bilder oder Erinnerungen aus seiner Kindheit wachzurufen.
Die Jungen erkannten ihn und erstarrten. Sein Ruf hatte auch die Jüngsten in den Judenvierteln erreicht. Alle Kinder wussten, wer er war.
Uriel Spinoza war der Jude, der als gläubiger Katholik in Porto gelebt hatte. Er war der Katholik, der zum orthodoxen Judentum konvertiert und gezwungen gewesen war, in die calvinistischen Niederlande zu fliehen, die
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