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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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Keine Straße, nicht einmal eine unansehnliche Gasse in diesem Land, das seinen Genies zu huldigen pflegt, ist nach Hector Spinoza benannt, und unter den fünfzigtausend Biographien bemerkenswerter Franzosen im
Larousse Dictionnaire de l’Histoire de France
fehlt sein Name.
    Um zu klären, wie es zu diesen Versäumnissen kommen konnte, schrieb ich sowohl ans Kultusministerium als auch an den verantwortlichen Herausgeber des zwanzigbändigen Lexikons. Vom Kultusministerium erhielt ich nie eine Antwort. Dagegen schrieb mir ein gewisser Maurice Lacouture einen höflichen, wenngleich ziemlich nichtssagenden Brief, in dem er das Fehlen meines Verwandten »Hermann Spinoza« im Lexikon bedauerte und erklärte, es handle sich wahrscheinlich um einen Fehler bei der Datenerfassung, der in der nächsten Ausgabe, deren Erscheinen um das Jahr 2020 ins Auge gefasst sei, berichtigt werde. Offenbar hatte der Herausgeber des Lexikons keine Ahnung, wer sich hinter den Buchstaben HS verbarg.
    Meine Kenntnisse über Hector Spinoza sind begrenzt. Ich weiß weniger über sein Leben als über seinen Tod.
    Mein Großonkel sprach selten von ihm – er interessierte sich mehr für Hectors Tochter Shoshana. Jakob Spinoza, Großvaters pedantischer Großvater, Finanzminister und Vertrauter Kaiser Franz Josephs, erwähnt Hectors Namen in seinen Memoiren nur an einer Stelle. Voltaire schreibt in seinen Erinnerungen nicht ein Wort über seinen Freund. Dagegen zitiert er seine Maximen – ohne Anführungszeichen und ohne Quellenangabe, wie mein Großonkel bemerkte – im
Philosophischen Wörterbuch
unter dem Stichwort »Philosoph«:
    »Handle gegen andere wie gegen dich selbst.«
    »Liebe die Menschen allgemein, aber die guten besonders.«
    »Vergiss dir zugefügtes Unrecht, aber nie Wohltaten.«
    »Ich habe Menschen gesehen, die unfähig waren, zu studieren, aber nie Menschen, die unfähig waren, Gutes zu tun.«
    Über Hector Spinoza weiß ich das Folgende: Als Sechsjähriger verlor er seine Mutter. Sie war der einzige Mensch, der ihm je nahestand. Er wuchs in Straßburg auf, wo sein Vater eine Handelsfirma betrieb. Nach seinem neunzehnten Geburtstag verließ er die Stadt seiner Kindheit, um an der Sorbonne Rechtswissenschaften zu studieren. In diesen Jahren las er an die Tausend Bücher und lernte vier Sprachen: Deutsch, Englisch, Arabisch und Griechisch. Hectors Leselust kannte so gut wie keine Grenzen, und das Gleiche galt für sein Gedächtnis. Er brauchte etwas nur einmal zu lesen, um sich später daran erinnern zu können.
    Sein Interesse für das Abweichende wurde von Paracelsus’ Buch
Philosophiae et Medicinae utriusque compendium
geweckt, das er – wie mein Großonkel behauptete – in der Grabbelkiste eines Bouquinisten am linken Seineufer gefunden hatte. Besonders fasziniert war er von den Gedanken des Schweizer Arztes und Alchimisten über das Chamäleon, diese merkwürdige kleine Echse, die je nach ihrer Umgebung die Farbe zu wechseln vermag.
    Nach seinem Studium spezialisierte er sich auf Wirtschaftsrecht. Binnen kurzer Zeit hatte er alle Konkurrenten ausmanövriert und sich in einem Ausmaß etabliert, wie es bis dahin keinem Juden in Paris gelungen war. Seine Klienten kamen aus der Aristokratie, und er sorgte dafür, dass sich ihr Besitz mehrte; keiner wurde enttäuscht. Er selbst war weder gierig noch verschwenderisch, Geld war ihm ziemlich gleichgültig. Den Löwenanteil seiner hohen Einkünfte gab er für eine einzigartige Sammlung esoterischer Literatur aus.
    Er trat eine Reise nach Marseille an, nur um zu versuchen, den privaten Talmud des großen Philosophen Moses Maimonides aus dem 12. Jahrhundert zu erwerben. Obwohl Pierre Arditti, der Besitzer des Kleinods, dringend Geld brauchte, weigerte er sich letztendlich doch, das exklusive Buch zu verkaufen. Er brachte es nicht übers Herz, sich davon zu trennen, nachdem es über fünfhundert Jahre im Besitz seiner Familie gewesen war. Da hatte Hector einen Geistesblitz und bot Pierre Arditti an, dessen einziges Kind, eine Tochter namens Sophie, zu heiraten. Er hatte sie zwar noch nie gesehen, begriff jedoch, dass die Heirat mit ihr die einzige Möglichkeit war, seiner Sammlung den Talmud des Maimonides einzuverleiben. Die Verbindung zwischen einem wohlhabenden jüdischen Advokaten, der in der Pariser Gesellschaft auf dem Weg nach oben war, und einer jungen Frau mit einem in den sephardischen Kreisen Marseilles wohlklingenden Familiennamen als einziger Mitgift konnte Pierre Arditti

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