Das Elixier der Unsterblichkeit
dass ich einen Bruder hatte, der Moricz hieß. Es nahm ein tragisches Ende mit ihm, dem Ärmsten, er erfror auf einem Gebirgsplateau auf dem Lhotse, im Himalaya. Du bist ihm ziemlich ähnlich. Er war nicht die Ehrlichkeit selbst, und er hat in seinem Leben eine Menge Unfug getrieben, aber man konnte nicht umhin, über einige seiner Einfälle zu lachen.«
Großvater hatte uns gegenüber diesen Moricz noch nie erwähnt. Es war Großmutter, von der wir erfahren hatten, dass sein älterer Bruder etwas Skandalöses angestellt hatte, für das Großvater sich schämte. Aber jetzt erzählte er von Moricz, der es liebte, Poker zu spielen, und der eines Tages in eine heikle Lage geraten war. Er brauchte Geld, um eine Spielschuld zu begleichen. Als er einsah, dass niemand ihm mit einem so großen Betrag aushelfen würde, hatte er eine Idee. Er zog seinen besten Anzug an, nahm aus einem Kästchen ein paar Goldmedaillen, mit denen sein Großvater von Kaiser Franz Joseph höchstpersönlich ausgezeichnet worden war, und hängte sie sich um den Hals. Dann bat er zwei Bekannte, die Straßenarbeiter waren, ihn in die Váczistraße zu begleiten, die feinste von Budapests Flanierstraßen mit den exklusivsten Geschäften der Stadt. Es war im Jahr 1911. Sie stellten sich vor Elemér Polgárs Herrenschneiderei, in der Europas Aristokratie, angeführt vom Prinzen von Wales, ihre Anzüge schneidern ließ. Die beiden Arbeiter taten, als führten sie mit den mitgebrachten Instrumenten irgendwelche Messungen aus, während Moricz Aufzeichnungen machte. Es dauerte nicht lange, bis der Meisterschneider Polgár persönlich sich in der Tür zeigte und neugierig fragte, was die Herren vor dem Eingang seines Salons taten. Widerwillig verriet Moricz ihm, sie seien vom Straßenbauamt, wo man weit fortgeschrittene Pläne habe, eine öffentliche Herrentoilette zu errichten. Eine solche stelle in dieser langen Fußgängerstraße eine sanitäre Notwendigkeit dar. Polgár war entsetzt: »Ein Pissoir vor meinem Geschäft!«, stieß er mit bebender Unterlippe hervor. »Das ist völlig undenkbar, das wäre mein Ruin. Sie verstehen wohl, junger Mann, dass in der Nähe meines Salons keine stinkende Toilette liegen kann. Stellen Sie sich das vor. Keinem meiner Kunden, in deren Adern blaues Blut fließt, es sind vornehme Adlige, kann man den Geruch von Pisse zumuten.«
Moricz versuchte, den Meister zu beruhigen, indem er ihm anvertraute, die Messphase des Projekts sei noch nicht abgeschlossen, erst die Auswertung ihrer Arbeit werde den exakten Standort der Herrentoilette ergeben. Polgár erkannte sogleich seine Chance und lud den freundlichen jungen Mann vom Straßenbauamt in seinen Salon ein, um dort ungestört ein privates Gespräch mit ihm führen zu können. Der Herrenschneider kredenzte Moricz ein Glas französischen Cognacs von der besten Sorte und versprach ihm zweitausend Kronen, wenn die Arbeiter die Messungen hundert Meter weiter fort verlegten.
Moricz ließ sich lange bitten und nicht bestechen, jedenfalls nicht, bevor Polgár die Summe auf fünftausend erhöht hatte. Ein paar Stunden später konnte Moricz – nachdem er seine Mitarbeiter bezahlt hatte – mit fünfundzwanzigtausend Kronen in der Tasche nach Hause zurückkehren, was damals ein großes Vermögen war.
Es erfüllte ihn mit Genugtuung, an diesem sonnigen Tag sechs glücklichen Geschäftsinhabern die Möglichkeit gegeben zu haben, durch ihr resolutes Eingreifen die Pläne des Straßenbauamts für den Bau eines Pissoirs unmittelbar vor ihrem Geschäft vereitelt zu haben.
Die Geschichte von Moricz machte mir riesigen Spaß, vor allem deshalb, weil Großvater uns Kindern sonst nie etwas Lustiges erzählte. Gleichzeitig bestärkte sie mich in der Vermutung, dass Avraham, Moricz und ich einen unheilvollen Zug in uns trugen, der in unserer DNA angelegt war.
DER FRANZÖSISCHE ARZT
Avraham verlegte sich auf die Wanderschaft und zeigte sich auf staubigen Wegen, die kreuz und quer durch Südamerika führten. Er murmelte französische Wörter rückwärts wie magische Formeln und verkündete, gegen ein geringes Entgelt, das er gern entgegennahm, Wunderdinge vollbringen zu können. Die Menschen hörten ihm zu, blieben jedoch misstrauisch. Er versuchte, den Zweiflern mit Beredsamkeit, Versprechen und Einschüchterung beizukommen. Er verkaufte auch kleine herzförmige Amulette mit den Namen katholischer Schutzheiliger und behauptete, dass sie ihren Träger gegen Krankheiten, Missernten, Neid und
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