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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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unglücklich darüber, dass er stattgefunden habe. Er bat um Entschuldigung für sein unwürdiges Handeln; sich wie ein erregtes wildes Tier zu verhalten sei eines Mannes von seinem Alter und seiner Stellung unwürdig. Er schlug vor, dass sie beide versuchten, die ganze Sache zu vergessen, und für eine Zeit auf den Kontakt miteinander verzichteten.
    Shoshana geriet außer sich. Sie las den Brief mindestens zehnmal, weigerte sich jedoch, seinen Inhalt anzunehmen. Sie legte sich aufs Bett und versuchte, den Genuss, den sie am Tag zuvor in Voltaires Armen erfahren hatte, zu beleben. Sie streichelte ihre Brüste und Schamlippen, bis sie in Schweiß gebadet war. Ihr Körper zitterte. Aber sie wusste nicht, ob das am Genuss lag, den sie empfand, oder am Ekel.
    Nach einer Weile setzte sie sich vor den Spiegel und beobachtete ihr Gesicht. Sie sah eine Fremde vor sich. Das machte ihr Angst. Sie hatte dieses Gesicht noch nie gesehen. Der Ausdruck der Augen war ängstlich, klagend, verwirrt. Es war nicht ihr Blick, sondern der einer fremden Frau. Sie wollte sich vom Gesicht dieser unglücklichen Fremden befreien. Als sie sie nicht fortjagen konnte, zerschlug sie den Spiegel.
    Nachdem sie ein paar Stunden geschlafen hatte, fasste sich Shoshana und schrieb einen leidenschaftlichen Brief an Voltaire. Sie verlangte, ihn wiederzutreffen, und betonte, sie weigere sich, auf das zu verzichten, wonach sie am meisten verlange.
    Eine Stunde später kam der Brief ungeöffnet zurück.
    In den folgenden zwei Wochen schickte sie dem Philosophen achtzehn Briefe. Alle diese Briefe enthielten nur drei Wörter: »Ich liebe Sie.«
    Alle Briefe kamen zurück, ohne dass Voltaire sie gelesen hätte.
ERFRORENE TRÄUME
    Es war erniedrigend und unerträglich für Shoshana, dass der Mann, den sie liebte, ihr den Rücken gekehrt hatte. Sie versank in einer Depression und sah keinen Sinn mehr im Leben. Sie wollte nichts mehr essen, sondern lebte nur von Tee. Sie wurde schwächlich und noch magerer. Sie war hohlwangig, ihre Augen lagen tief in ihren Höhlen.
    An Shoshanas traurigem Gesicht konnte der alte Diener Gilbert mit Leichtigkeit ablesen, dass die Beziehung zu Voltaire ihr Gefühlsleben beschädigt hatte. Er versuchte, sie zu trösten. Er erklärte, es gebe keinen besseren Freund als den großen Philosophen. Er sei erfahren und weise, habe die Welt gesehen und könne ausgezeichneten Rat geben. Aber er sei vierundsiebzig Jahre alt. Shoshana könne sich glücklich schätzen, einen solchen Vater zu haben. Dagegen könne kein Mensch, der mit gesunder Vernunft ausgestattet sei, sich vorstellen, dass er als Liebhaber in Frage komme. Es sei sinnlos, von ihm zu träumen. Es sei, sagte Gilbert, der an der Atlantikküste in der Bretagne aufgewachsen war, als wollte man gegen Wellen ankämpfen, die einen ständig an die Klippen zurückwerfen. Kluge Worte. Doch Shoshana weigerte sich zuzuhören.
    Obwohl das klare Herbstlicht durchs Fenster in Shoshanas Zimmer strömte, spürte sie, dass sie in eine Schattenwelt eingetreten war. Ihr fehlte die Lebenskraft, sie wollte nur vergehen und sterben.
    Im November entdeckte sie, dass sie schwanger war.
    Gilbert riet Madame Spinoza, ihrer Tochter Äpfel in Zuckerlauge zu geben, um sicherzustellen, dass sie überlebte. Sie versuchte, Shoshana mit dem Löffel zu füttern. Doch Shoshana erbrach alles.
    Es war ein ungewöhnlich kalter Dezember, große Schneeflocken schwebten in der Luft, und die Straßen von Paris waren von Schneematsch bedeckt. Das Winterwetter sprach zu Shoshana von Hoffnungslosigkeit und erfrorenen Träumen.
    Am Heiligabend bekam sie starke Blutungen und verlor das Kind. Sie hatte hohes Fieber und die Mutter benetzte ihre schweißnasse Stirn mit feuchten Handtüchern. Im Fieberwahn rief sie Voltaires Namen. Der alte Hausarzt der Familie, Doktor Villancourt, untersuchte Shoshana und konstatierte, er könne nichts für sie tun, solange ihre Lebenslust mit so kleiner Flamme brannte. Als das Fieber fiel, versank sie in tiefste Melancholie. Sie schwieg vier Wochen lang und war von Widerwillen gegen die Welt erfüllt.
    An einem frühen Morgen im Januar, als die Mutter zur Modistin gegangen war, um einen neuen Hut anzuprobieren, fühlte Shoshana sich am ganzen Körper kalt und verfroren. Ihre Glieder waren steif und sie brauchte lange, um aus dem Bett zu kommen. Es war, als hätte all ihre Kraft sie verlassen.
    Langsam und sorgfältig machte sie aus dem Bettlaken eine Schlinge. Dann zog sie ein rotes Kleid an,

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