Das Elixier der Unsterblichkeit
der Lehrer wohl meinte. »Du, Nicolas Spinoza, unser neuer jüdischer Schüler, du führst dich abscheulich auf. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so respektlos ist gegenüber Jesu Leiden wie du. Was du getan hast, ist unverzeihlich, und ich verstehe, dass kein anderer Junge mit dir zusammen sein will.«
Der Lehrer schwieg, und alle Kinder blickten mit Abscheu auf Nicolas.
Am nächsten Tag wurde er auf dem Schulhof von einem älteren Jungen gedemütigt, der so tat, als wollte er ihm die Hand schütteln, aber so fest zudrückte, dass Nicolas in die Knie ging. Als Ausdruck der öffentlichen Ungnade erhielt er einen kräftigen Tritt in den Bauch. Nicolas stand auf und blieb reglos stehen, während die Tränen über seine Wangen liefen. Der ältere Junge, der unumstrittene Anführer der Chorknaben, spuckte ihm ins Gesicht. Dies weckte bei allen Jungen allgemeine Heiterkeit.
Viele Jahre später lag Nicolas noch immer in konstanter Fehde mit den anderen Chorknaben. Er war immer allein im Kloster, ohne Freunde, und nichts schützte ihn vor den herabsetzenden Kommentaren der Mönche und der anderen Kinder. Manchmal dachte Nicolas voller Abscheu an seine jüdische Identität, die ihn für alle so anstößig machte.
EINE LANGE WANDERUNG
Im Alter von dreizehn Jahren, als auf Nicolas’ Wangen Haare zu sprießen begannen und er in den Stimmbruch kam, wurde er gemäß den Regeln der Klosterschule der Église Saint Sulpice ohne Vorwarnung auf die Straße gesetzt.
Er fühlte sich erniedrigt und wusste nicht, was er tun sollte. Shoshana war bei Voltaire ausgezogen, das wusste er aus ihren Briefen, und er hatte keine Lust, allein bei dem Philosophen zu wohnen. Schluchzend nahm er sein Ränzel und machte sich in der Novemberkälte auf den Weg nach Paris.
Er wanderte durch unwirtliche Landschaften. Arme Dörfer und Höfe lagen vereinzelt in den Wäldern. Nur in der Nähe der Flüsse schien es fruchtbaren Boden und kleine Ortschaften zu geben. Fast jeden Tag fiel Nieselregen. Nicolas fror und hatte Schwierigkeiten, den Weg zu finden. Er merkte, dass er im Begriff war, in die Irre zu gehen. Zeitweilig sehnte er sich nach den asketischen Bequemlichkeiten des Klosters, nach der strengen, aber Geborgenheit schenkenden Alltagsroutine, nach der Orgelmusik in der Kirche. Aber seine Sehnsucht ging immer schnell vorüber.
Ende Dezember näherte er sich Paris. In weiter Ferne erkannte er die Silhouette von Notre-Dame. Er stellte sein Ränzel ab und lehnte sich reglos an einen Baum. Sein Herz füllte sich mit der Sehnsucht nach einem Zuhause.
Nicolas würde nie den Anblick vergessen, als er die Wohnung der Mutter erreichte und sich die Schuhe auszog. Seine Fußsohlen waren schwarz, es war eine Farbe, die tief in die Haut eingedrungen war und die man nicht abwaschen konnte. Die Haut unter den Füßen war schwielig geworden, und der Gestank war so furchtbar, dass selbst die Läuse sich fernhielten. Er betrachtete sein Spiegelbild. In den vier Wochen, die er für den Weg nach Paris gebraucht hatte, war er um zehn Kilo abgemagert. Er war verblüfft über das harte Gesicht, das er im Spiegel sah. Er verstand, dass die Wanderung ihn zu einem neuen Menschen gemacht hatte.
Er hatte seine Mutter seit Jahren nicht gesehen und erkannte sogleich, dass sie vorzeitig und in einer grauen Stimmung von Melancholie gealtert war. Er bemerkte Züge von Hoffnungslosigkeit und Apathie, wie sie für die Ardittis ganz ungewöhnlich waren. Es war offensichtlich, dass sie nicht vermochte, gegen ihr Schicksal zu kämpfen. Sie war eine müde alte Frau, unfähig, Verantwortung für ihren Sohn zu übernehmen. Mit Shoshana, die bei ihr lebte, hatte sie genug zu tun und freute sich nicht über das Wiedersehen mit Nicolas.
Während Nicolas ein warmes Bad nahm, schrieb sie einen Brief an Philippe Charrier, einen früheren Freund ihres Mannes, Rektor am Lycée Louis-le-Grand, einer der besten vorbereitenden Schulen für höhere Studien. In dem Brief erklärte sie, Shoshana habe den Verstand verloren und bedürfe ihrer ganzen Fürsorge. Eine Möglichkeit, Nicolas bei sich unterzubringen, habe sie nicht. Sie bat Charrier, sich ihres Sohnes anzunehmen und sein Gemüt mit Hoffnung und seinen Geist mit klugen Gedanken zu füllen.
Zu Nicolas sagte sie, dass er nicht bleiben könne. Sie rief ihm noch einmal ins Bewusstsein, dass er »de buena famiya« sei, und küsste ihm die Wange.
Nicolas, nach der langen Wanderung missmutig und matt, stand im Flur und wünschte sich
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