Das Elixier der Unsterblichkeit
stellte sich auf einen Schemel, wand das Laken um einen Haken am Deckenbalken und steckte den Kopf in die Schlinge. Sie blieb eine Sekunde stehen, als wollte sie etwas sagen, dann zog sie die Schlinge zu und stieß den Schemel um. Ein heftiges Zucken fuhr durch ihren knochendürren Körper.
BOLOGNA UND DIE PHYSIK
Drei Jahre nach Shoshanas Tod, im Januar 1772, ließ die Stadt Bologna bei Anbruch der Dunkelheit in der Nähe der Universität ein Feuerwerk abbrennen. Es war vielleicht nicht so spektakulär wie das legendäre Feuerwerk vierzig Jahre zuvor, als man Laura Bassi als erste Frau feierte, die an dieser ehrwürdigen Lehranstalt Professorin geworden war. Aber es war dennoch ein wahrhaft imponierendes Feuerwerk.
Hunderte von Raketen stiegen zum Himmel auf und malten weiße Rosen an das schwarze Firmament, um zu feiern, dass Shoshanas Abhandlung angenommen und sie posthum zum Mitglied der Wissenschaftsakademie in Bologna gewählt worden war.
In der vielköpfigen Volksmenge, die sich versammelt hatte, um das Spektakel unter Begeisterungsrufen zu verfolgen, befand sich auch Voltaire. Mit tränenerfüllten Augen betrachtete er den glühenden Sternenregen.
Im 19. Jahrhundert wurde die Physik zur Modewissenschaft. Könige verfolgten die Entwicklung der Physik, das aufkommende Bürgertum zeigte großes Interesse an ihren Pioniertaten, und die Zeitungen präsentierten die erfolgreichsten Physiker als die großen Helden der Zeit: Ampère, Faraday, Ohm, Volta. Wer eine bedeutende Entdeckung machte, schrieb seinen Namen ins allgemeine Bewusstsein ein, indem irgendein Begriff nach ihm benannt wurde. Shoshana Spinozas Name geriet dagegen in Vergessenheit.
Der vielleicht größte Durchbruch in der Physik geschah im Jahre 1905, als ein junger Mann namens Albert Einstein, der am Patentamt in Bern beschäftigt war, in der deutschen Physikzeitschrift Annalen der Physik vier Artikel veröffentlichte. Er wurde von Wissenschaftlern in allen Erdteilen gefeiert. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Die Welt würde nie wieder sein wie zuvor.
Einsteins vierter Artikel ist für die Geschichte von Shoshana von besonderem Interesse. Er handelt von der Äquivalenz zwischen Masse und Energie und beinhaltet die berühmte Formel E = mc² (in der E für Energie, m für Masse und c für die Lichtgeschwindigkeit steht). Sie bekräftigte, dass Shoshanas Berechnungen korrekt und ihre Theorien haltbar waren.
NICOLAS
Einige Stunden vor Nicolas’ Geburt bekam Shoshana von ihrem Vater ein rotes Kleid. Es war ihr Geburtstagsgeschenk, denn das Schicksal in seiner Unergründlichkeit hatte ihren kleinen Bruder am gleichen Tag zur Welt kommen lassen, an dem sie fünf Jahre alt wurde.
Sie träumte schon seit Monaten von einem solchen Kleid, seit ihre Mutter sie mitgenommen hatte ins Théâtre-Français, um Jean Racines klassische Tragödie
Phädra
anzusehen. Madame Spinoza wollte früh das Interesse ihrer Tochter an griechischen Dramen wecken und erklärte ihr, Racines Geschichte beruhe auf griechischer Mythologie. Er habe freie Anleihen bei seinem antiken Vorgänger gemacht, der einen ganz anderen Blick und größere stilistische Schärfe besessen habe. Aber Shoshana war zu klein und verstand nichts von dem Stück über die Königin, die sich in den falschen Mann verliebt hatte und am Ende beschloss, sich das Leben zu nehmen. Das einzige, woran das Mädchen während der Vorstellung dachte, war das rote Kleid der gefeierten Schauspielerin Thelma, die die Titelrolle spielte. Shoshana träumte davon, eines Tages ein so schönes Kleid zu bekommen und sich in eine Königin zu verwandeln.
Die Fünfjährige war unerhört stolz auf das Geburtstagsgeschenk ihres Vaters und wollte es gern der Mutter zeigen. Madame Spinoza befand sich an diesem Tag im Schlafgemach, zu dem die Tochter keinen Zutritt hatte. Sie stand vor der Tür und versuchte, einen Blick auf die Mutter zu erhaschen. Aber die Tür wurde jedes Mal schnell wieder geschlossen, wenn Doktor Villancourt, der joviale Hausarzt der Familie, oder eine der fremden Damen, die er mitgebracht hatte, aus dem Schlafgemach traten oder hineingingen.
Das Mädchen hörte durch die Tür Schluchzen und Schreie, Rufe und Stöhnen. Sie erkannte die Stimme nicht und fragte, wer es war. »Geh weg!«, erwiderte ihr Vater, der im Korridor auf und ab ging. Nur der Diener Gilbert hatte ein freundliches Wort für Shoshana übrig. Er erklärte ihr, Mama bekomme ein neues Kind und alle Fremden im Haus seien damit beschäftigt, ihr
Weitere Kostenlose Bücher