Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
Vom Netzwerk:
Staatskunst wie über das Rätsel der Wiedergeburt gesprochen habe. Hector, sagte er und nippte am Wein, habe über ein enzyklopädisches Wissen verfügt und es geliebt, über unergründliche Dinge zu diskutieren.
    Die Zeit öffnete sich in der Rückschau, während Charrier sprach. Nicolas verstand, wie viel die Freundschaft mit seinem Vater für den Rektor bedeutete. Er war stolz auf seinen Vater und dachte plötzlich daran, wie dieser ihn abends immer zugedeckt und ihm einen Kuss gegeben hatte. Wenn er dann zur Tür ging, zog Nicolas schnell die Decke über den Kopf und schloss fest die Augen, um einzuschlafen. Er sah die Szene deutlich vor sich, aber an das Gesicht des Vaters konnte er sich nicht erinnern.
    Einige Wochen nach der Ankunft bei der Familie Charrier traf ein Brief von Voltaire ein. Der Philosoph bat Nicolas, ins Schloss Ferney zu ziehen. Er versprach, ihm einen Lederbeutel mit Münzen zu senden, die die Reisekosten mehr als genug decken würden. Voltaire verstand es geschickt, das Leben auf dem Lande als ein spannendes Abenteuer für einen Jungen darzustellen. Er schrieb in ergreifender Weise von seiner Einsamkeit und von seinen Mühen mit dem
Philosophischen Wörterbuch
. Er erzählte auch, nicht ohne Selbstironie, dass er unter starken Beschwerden beim Wasserlassen leide, die ihn zu häufigem Gebrauch des Nachtgeschirrs zwangen, mit einigen kümmerlichen Tropfen als einzigem Resultat.
    Es kamen bald weitere Briefe, und Nicolas’ Erinnerung an den Mann, der ihn barsch in die Klosterschule gesteckt hatte, wurde überlagert von den heiteren Zeilen. Der Junge begann das Gute, das es bei dem Philosophen geben musste, zu vergolden. Denn er sehnte sich nach einem liebevollen Vater.
EIN UNVERGESSLICHER MORGEN
    Eines Sonntags im März erwachte Nicolas mit einer kräftigen Erektion. Dieser Morgen, auf den Tag genau zwanzig Jahre vor seiner Hinrichtung, sollte in Nicolas’ Bewusstsein mit einer Detailschärfe weiterleben, wie sie in seinen späteren Erinnerungen selten anzutreffen ist.
    Der Junge wusste nicht, was er tun sollte, um das Glied zu seiner gewöhnlichen Größe zurückkehren zu lassen. Er fürchtete, es würde nie wieder normal werden, und fragte sich, was die Frauen im Haus – Madame Léonie und Eloise – sagen würden. Eloise war die Amme der jüngsten Kinder, ein rechtes Reibeisen aus der Gascogne, das gern den Rektor ankeifte und schamlos die milchprallen Brüste entblößte. Als Nicolas an Eloise dachte, spürte er, wie eine Welle von Wärme durch seinen Körper fuhr. Dann erinnerte er sich, im Traum bei der jungen Frau aus der Gascogne gelegen, Milch aus ihrer Brust getrunken und ihre breiten Hüften umschlungen zu haben. Er fasste seinen Penis, hielt ihn in festem Griff und ließ sich, ohne den geringsten Widerstand zu bieten, von einer Erregung berauschen, die ihm bisher ungekannten Genuss bereitete. Mitten in seinen Phantasien über Eloise wurde er indessen von Maximilien unterbrochen, der an seine Tür klopfte und rief, er habe Besuch.
    In der Tür stand Gilbert, der Nicolas etwas Wichtiges mitzuteilen hatte. Es hatte im Auftreten des alten Dieners stets etwas Jungenhaftes gegeben, aber der düstere Blick und die zusammengekniffenen Lippen in seinem ausdruckslosen Gesicht sprachen jetzt eine andere Sprache. Nachdem sie sich in das hinterste Zimmer gesetzt hatten, kam er gleich zur Sache und berichtete zunächst von Shoshanas Tod und von Madame Spinozas Mühen, sie begraben zu lassen, da Selbstmörder nicht in Gottes Acker ruhen durften. Erst nach einem Monat war es ihr gelungen, Shoshanas Körper in einem Massengrab in den Katakomben von Paris unterzubringen. Sie hatte es nicht geschafft, Nicolas vom Tod seiner Schwester zu unterrichten. Aber jetzt war auch Madame Spinoza fortgegangen, ohne auch nur einen Abschiedsbrief zu hinterlassen. Sie war zwei Abende zuvor ruhig eingeschlafen, in Unwissenheit darüber, dass der Tod längst in ihrem Bauch nistete, und am Morgen nicht mehr aufgewacht. Doktor Villancourt glaubte, dass es der Blinddarm gewesen sei.
    Nicolas wunderte sich darüber, dass der Tod der Schwester und der Mutter ihn so wenig berührten. Er erklärte Gilbert, dass er auf dies alles vollkommen unvorbereitet sei, aber so war es mit dem Tod. Er kam, wenn man es am wenigsten ahnte. Fünf Jahre alt sei er gewesen, als sein Vater starb. Er habe eine sehr vage Erinnerung an jenen Tag, wie auch an den Tag, an dem er in die Klosterschule gebracht worden war. Im Verlaufe eines

Weitere Kostenlose Bücher