Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
Vom Netzwerk:
Augenblicks war er von seiner Familie getrennt und danach hatte er weder die Mutter noch die Geschwister je für längere Zeit wiedergesehen. Jetzt waren sie alle fort und kamen ihm beinahe wie Phantasiegestalten vor. Nur Voltaire sei immer präsent gewesen, so selbstverständlich wie die Luft, die er geatmet habe. Er erzählte Gilbert von den Briefen des Philosophen und fügte hinzu, dass er versprochen habe, im Sommer ein paar Wochen in Ferney zu verbringen.
    Gilbert unterbrach den Jungen und warnte ihn.
    »Voltaire ist ein Philosoph, der mit Recht für seine Intelligenz berühmt ist«, sagte er. »Bestimmt könnte man ihn auch für seine Großzügigkeit loben, dafür, dass er sich nach dem Tod eures Vaters eurer angenommen hat. Aber« – der alte Diener senkte die Stimme – »er hat das zu keinem Zeitpunkt aus Liebe oder Freundschaft, sondern aus Berechnung getan. Es hat stets einen Hintergedanken gegeben. Er ist auf etwas aus, das dir gehört.«
GEDANKEN ÜBER VOLTAIRE
    Ich wünschte, ich hätte genauere Kenntnis von Dingen, die Voltaire betreffen, denn er war eine komplizierte und faszinierende Gestalt.
    Einerseits war er ein Mann, der viel Gutes tat. Er predigte Toleranz in einer Welt, in der man noch immer Ketzer und Juden auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Durch sein energisches Engagement für unschuldig Verurteilte brachte er die Gesellschaft, in der er lebte, in Bewegung. Er huldigte den Prinzipien der Freiheit und bereitete den gedanklichen Boden der Revolution vor. Er schuf bedeutende Literatur und er war der Junge aus armen Verhältnissen, dem alles gelang und der sein Leben in Reichtum beendete.
    Anderseits war er verschlagen und intrigant. Er bediente sich oft der Lüge als Instrument zur Enthüllung der Wahrheit. Er war ein Mitläufer, der sich verstellte, er passte sich an und schmeichelte Königen, um sich in den Korridoren der Macht bewegen zu können. Er gab sich manchen gegenüber als Freund aus, nur um ihnen das Messer in den Rücken zu stoßen, wenn es ihm passte. Er war ein Klassenverräter, der in Luxus und Überfluss lebte.
    Wenn ich versuche, Voltaire zu verstehen, kann ich mich nur an das halten, was mein Großonkel uns erzählt hat. Aber manchmal kommt es mir so vor, als wäre Voltaire ein Spinoza gewesen, zusammengesetzt aus den zwei unterschiedlichen Charakterzügen, die in jeder Generation unserer Familie auftauchen.
    Aber die kurze Lebenszeit, die mir noch bleibt, muss ich dem Erzählen unserer Familiengeschichte widmen. Sie lässt nicht zu, dass ich jetzt noch anfange, Voltaires Leben zu studieren.
    Plötzlich fällt mir etwas ein, was mein Großonkel Sasha und mir erzählt hat. Es erstaunt mich nicht, dass ich gerade jetzt daran denke.
    In einem von Wiens gut sortierten Antiquariaten fand mein Großonkel in den dreißiger Jahren, als er nach Literatur über die katholische Inquisition in Spanien suchte, die Memoiren von Charles-Joseph Lamoral, dem siebten Prinzen de Ligne. Der Prinz stammte aus einem belgischen Fürstengeschlecht, wurde aber zum österreichischen Feldmarschall ernannt und lebte bis zum Jahr 1814 in Wien. Seit seiner Jugend war de Ligne ein großer Bewunderer Voltaires gewesen, den er bei einer Gelegenheit auf Schloss Ferney besuchte.
    Der Prinz war hingerissen von »der schönen und brillanten Phantasie des Philosophen«. Voltaire ging wie gewöhnlich mit einer kleinen schwarzen Samtkappe auf dem Kopf umher und erzählte, er habe in seiner Zeit in Dieppe und Colmar in den Judenvierteln gewohnt. Dann las er dem Besucher laut aus einem Text vor – eine direkte Antwort darauf, dass die Inquisition in Lissabon zweiunddreißig Juden auf dem Scheiterhaufen verbrannt hatte –, den er verfasst und mit dem Titel
Die Predigt des Rabbiners Akib
in Smyrna
versehen hatte. Verborgen hinter der Maske des fiktiven Rabbiners, übte der Philosoph vernichtende Kritik an Christen, die Juden mit dem Argument verfolgten, sie hätten Christus getötet.
    »Wenn ihr Vernunft hättet, würde ich euch fragen, warum ihr uns ausrottet, die wir die Väter eurer Väter sind. Was würdet ihr antworten, wenn ich sagte, dass euer Gott unserer Religion angehört? Er wurde als Jude geboren, wurde als Jude beschnitten, empfing die Taufe, gebt es zu, vom Juden Johannes … er befolgte in allem das jüdische Gesetz. Er lebte als Jude, starb als Jude, und ihr – ihr verbrennt uns auf dem Scheiterhaufen, weil wir Juden sind.«
    Der Prinz applaudierte begeistert, als Voltaire zu Ende gelesen hatte.

Weitere Kostenlose Bücher