Das Elixier der Unsterblichkeit
den Auftrag, Prinz Biedersterns Verwalter zu werden und das heruntergekommene Gut vor dem Ruin zu bewahren, nicht angenommen hätte?
Sein ältester Sohn Bernhard hätte mit großer Wahrscheinlichkeit eine andere Frau geheiratet, und weder Großvater noch Vater noch ich wären jemals geboren worden.
Doch wenn man es recht bedenkt, ist wohl niemandem das Schicksal vergönnt, in der himmlischen Seligkeit zu verweilen und ungeboren zu bleiben. Ich wäre also in einer anderen Gestalt zur Welt gekommen und nicht der gewesen, der ich bin.
Wäre ich dann glücklicher gewesen?
Ich werde es niemals erfahren, und ich bin dankbar dafür. Es wäre doch bitter, kurz bevor der Vorhang fällt, einzusehen, dass mein Leben ganz anders hätte aussehen und weltliche Genüsse und Freuden hätte enthalten können.
Chiara kam schon in der Morgendämmerung zur Place de Grève, um sich einen Platz vorn am Podium zu sichern. Stunde um Stunde stand sie so im strömenden Regen und wartete mit unerschütterlicher Ruhe.
Was an diesem Vormittag geschehen sollte, hätte jede andere Frau an den Rand der Tränen gebracht. Nicht so Chiara. Zu weinen war unvereinbar mit ihrer Persönlichkeit.
Damit Nicolas sie in der grauen Volksmenge erkennen sollte, hatte sie sich ihr Brautkleid angezogen, das weiß war wie Schnee. So wollte sie ihrem Mann zeigen, dass das Leben auf ihrer Seite war, und ihm damit Mut einflößen.
Sie sah keinen Grund dafür, auf ein Wunder oder ein göttliches Eingreifen zu hoffen, denn sie war überzeugt, dass Robespierre Nicolas im letzten Augenblick vor der Guillotine retten würde. Sie meinte, obgleich die Uneinigkeit zwischen Nicolas und Maximilien immer größer geworden war, seien sie immer noch »die Unzertrennlichen«, und schob ihre Befürchtungen beiseite. Doch nicht der Gedanke an diese Freundschaft hielt sie davon ab, sich Maximilien zu Füßen zu werfen und ihn anzuflehen, Nicolas’ Leben zu schonen – wozu ihre Freunde ihr geraten hatten –, sondern ihre klare Überzeugung, dass eine Frau, die bettelte, unwürdig war und kein Mitleid verdiente.
Robespierre lud nicht zu Widerspruch ein und ertrug keine Kritik. Er war arrogant und schonungslos, voller Menschenverachtung und fest entschlossen, bis zum Äußersten zu gehen in seinem Streben, seine hochtrabenden revolutionären Ideen in die Praxis umzusetzen und eine neue Welt zu erschaffen. Das wussten zum damaligen Zeitpunkt alle. Viele ahnten bereits, dass der Geist der Freiheit, der große Teile des französischen Volkes berauscht hatte, im Rückzug begriffen war. Doch für Chiara war es undenkbar, dass Robespierre, obwohl sie seine Selbstgerechtigkeit und Brutalität kannte, Nicolas mit seinem Leben bezahlen lassen würde, nur weil er öffentlich auf den raschen Rückgang der Errungenschaften der Revolution – Gleichheit, Brüderlichkeit, Demokratie und Menschenrechte – hingewiesen hatte.
Auf den Schlag um elf Uhr, im selben Moment, als der Regen aufhörte und die Sonne hinter den Wolken hervorschaute, begannen die Trommeln auf dem Platz der Republik zu dröhnen und zu verkünden, der Gefangene sei auf dem Weg von der Conciergerie. Einige Minuten später war der Wagen mit Nicolas angekommen. Die lärmende Volksmenge stand dicht an dicht, um dem blutigen Schauspiel beizuwohnen, als wäre es die erste öffentliche Hinrichtung in Paris. Pfiffe und Buhrufe ertönten, und so mancher reckte drohend die Faust.
Mit hocherhobenem Haupt und langsamen Schritten trat Nicolas, begleitet von rhythmischen Trommelschlägen, auf das Schafott zu. Seine Hände waren auf dem Rücken gefesselt – einerseits eine Sicherheitsmaßnahme, anderseits eine Erinnerung daran, dass er ein Verbrecher war, den das Volksgericht verurteilt hatte. Er sah selbstsicher und furchtlos aus. Er war allein – gegen den Rest der Welt. Als Aufrührer gegen die Tyrannei Robespierres hatte er keine Barmherzigkeit zu erwarten. Die Würde, die er ausstrahlte, weckte selbst bei seinen ärgsten Widersachern Bewunderung.
Als sich Chiaras und Nicolas’ Blicke trafen, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und formte die Lippen zu einer Liebeserklärung, die er lächelnd erwiderte.
Plötzlich verstummte das Dröhnen der Trommeln. Nicolas wandte sich Maximilien zu, der blass war und gleichgültig wirkte. Die kolossale Macht, die Robespierres Stellung als uneingeschränkter Diktator Frankreichs beinhaltete, hatte ihn nicht von seiner chronischen Erschöpfung heilen können, verursacht durch unzählige
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