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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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seine Mutter hegte die Vermutung, dass das Ende der Familiengeschichte nahe war.
    In einer regenschweren Nacht setzte Rudolf sich im Bett auf, blickte sich um und fragte sich, ob der Tag angebrochen sei. Der Himmel war feuerrot, und in der Ferne hörte man laute Rufe. Zunächst wusste er nicht, was vor sich ging. Er zog sich an und trat auf den Balkon. Der Blitz war in Biedersingen eingeschlagen, das Sägewerk brannte. Als er am Brandort eintraf, war nichts mehr wiederzuerkennen. Wo Häuser und Werkstätten gestanden hatten, ragten nur noch Schornsteine auf. Überall qualmten verkohlte Schutthaufen.
    Nach dem großen Brand im Herbst 1856 war Rudolf verändert. Doch im Leben eines jeden Menschen gibt es einen Punkt, von dem aus ein neuer Anfang möglich ist. Rudolf gelangte an diesen Punkt, als er in den höchsten Turm des Schlosses hinaufstieg. Er blickte auf die umgebende Landschaft und all das, was die Jahrhunderte seiner Familie geschenkt hatten. Es war schönes Wetter. Er sah Felder und Bäume und sanfte Hügel. Er sah eine Ecke Österreichs, die ihm gehörte. Das Schloss, das ihm von seinem Vater und seinem Großvater und von deren Vätern und Vorvätern durch Jahrhunderte und Generationen vererbt worden war. Die Ländereien und die Wälder, in deren Mitte Biederhof wie ein Schmuckkästchen lag.
    Rudolf war in einer Welt aufgewachsen, in der man glauben konnte, dass Geld keine Bedeutung hatte. Er lernte nie zu verstehen, auf welchen geheimnisvollen Wegen die Wälder sich in neue Schieferplatten auf dem Dach des Schlosses oder in Bälle für die Cousins und Cousinen der Wiener Hofgesellschaft verwandelten. Erst als er den Kutschern, Dienern, Köchen, Gärtnern und Waldarbeitern ihre Löhne nicht mehr auszahlen konnte, sah er die Katastrophe nahen. Er verstand, dass all dies, was seit undenklichen Zeiten der Familie Biederstern gehörte und die Verkörperung des Familiennamens ausmachte, im Begriff war, ihm aus den Händen zu gleiten.
    Er verspürte eine Benommenheit in der Herzgegend, eine ihm Schwindel verursachende Mischung aus Schmerz und Angst, wie er sie noch nie erlebt hatte. Er brach in Tränen aus. In diesem Moment kam der Wendepunkt. Die gute Fee der Selbsterkenntnis hatte den Teufelskreis, in dem Rudolf gefangen gewesen war, durchbrochen.
    Am nächsten Morgen stand er vor Tagesanbruch auf, um sich dem Wiederaufbau des Sägewerks zu widmen. Gemeinsam mit dem Vorarbeiter zeichnete er Entwürfe und führte Berechnungen durch. Erst bei Einbruch der Dämmerung kehrte er ins Schloss zurück. Sein Interesse und sein Einsatz weckten allseits Erstaunen. Als seine Mutter davon erfuhr, dankte sie dem Allmächtigen und weinte vor Glück.
    Die Monate vergingen. Eines Tages, als es sehr kalt und die Landschaft von Schnee bedeckt war, konnten die Arbeiter den Bau nicht fortführen, ohne sich Erfrierungen zuzuziehen. Ihre Finger waren steif vor Kälte. Da lud Rudolf die Arbeiter des Gutes aufs Schloss ein. Man wärmte Wein über dem offenen Feuer und gab Gewürze hinein, bevor er serviert wurde. Rudolf erklärte der verblüfften Versammlung, er habe, um das Gut vor den gierigen Händen der Gläubiger zu retten, einen Verwalter eingestellt. Der Mann, der am folgenden Tag aus Regensburg eintreffen sollte, habe sich große Verdienste um die Rettung seines deutschen Cousins, des Fürsten von Thurn und Taxis, erworben. Abschließend betonte Rudolf, es sei aller Anwesenden Pflicht, dem kleinsten Wink des Verwalters Folge zu leisten.
    Die Leute auf dem Gut verspürten eine gewisse Erleichterung und sahen mit Zuversicht dem kommenden Tag entgegen. Die Wahl des Verwalters weckte indessen allgemeine Verwunderung auf Biederhof.

9.
DER FINANZMINISTER

SCHWINDEL
    Wieder einmal wird mir schwindelig bei dem Gedanken an all die Geschehnisse in einer entschwundenen Zeit, die mein Leben beeinflusst haben. Ein junger Rabbinersohn in León, der Moses begegnete, ein gewissenloser Arzt in Granada, der seinen Herrscher vergiftete, ein Wandernder Jude, der dem Tod mehr als dreihundert Jahre lang auswich, ein Philosoph aus Amsterdam, der unter Paranoia litt, ein bibliophiler Pariser Advokat und seine wissbegierige Tochter und seine zwei merkwürdigen Söhne – diese Menschen aus der Vergangenheit, die mein Großonkel mit seinen Erzählungen in meiner Kindheit vor uns erstehen ließ, sie alle haben mich vielleicht stärker geprägt als Mutter und Vater, die immer so unerreichbar wirkten.
    Wie hätte mein Leben ausgesehen, wenn Jakob Spinoza

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