Das Elixier der Unsterblichkeit
schlaflose Nächte. Dennoch war das Oberhaupt der Jakobiner in der Lage, sich dem einzigen zu widmen, was ihn bis zu einem gewissen Grade beleben und seine Müdigkeit vergessen machen konnte: der Hinrichtung seiner Feinde im Namen der hohen Ideale der Revolution.
Nicolas nickte ihm zu und sagte freundlich: »Maximilien, das nächste Mal ist die Reihe an dir, deinen dicken Hals hier hinzulegen. Auf Wiedersehen.«
Er ging auf die Knie und legte den Kopf unter die Guillotine. Der Nacken wurde entblößt, und man konnte den Hals und die Wirbel des Rückgrats sehen, die unter dem weißen Hemd verschwanden.
Die Volksmenge verstummte. Der Henker blieb stehen, als wartete er darauf, dass der Ideologe der Revolution in letzter Sekunde begnadigt würde. Chiaras Hände begannen leicht zu zittern. Ihr wurde schwindelig. Eine unsichtbare Macht presste ihre Brust zusammen, sodass sie kaum atmen konnte. Robespierre brüllte dem Henker zu, er solle seines Amtes walten. Keine Gnade solle dem widerfahren, der gegen die Revolution konspiriert habe. Das Beil fiel mit einem dumpfen Schlag, und Jubel brach aus.
Chiara blieb reglos stehen, und so stand sie noch lange, nachdem die Zuschauer den Platz verlassen hatten.
DER DEBÜTROMAN
Achtundzwanzig Jahre später erreichte Chiara die Nachricht, Napoleon sei in der Verbannung auf St. Helena gestorben. Daraufhin versuchte sie geduldig, ihrem Enkel Jakob von den Gründen zu erzählen, aus denen die Revolution im Namen der Gleichheit und der Freiheit damit geendet hatte, dass ein absolutistischer Kaiser das Land beherrschte. Doch sie merkte schnell, dass diese Aufgabe zu schwer für sie war.
Denn wie erklärt man, dass ein Volk, dessen Ziel es war, das Ancien Régime, das alte, despotische Regime, auszulöschen, schließlich einem korsischen Hauptmann folgte, der am 13. Vendémiaire (5. Oktober 1795) von der Treppe der Église Saint-Roch in Paris das Feuer auf die Volksmenge eröffnete und über dreihundert Royalisten tötete, um daraufhin Frankreich ein neues goldenes Zeitalter zu versprechen? Und was antwortet man auf die Frage, warum die Revolution nicht ohne Schrecken und Terror durchgeführt werden konnte, ohne auf Straßen und Plätzen zehntausende Leichen zu stapeln? Oder wie es dazu kommen konnte, dass die Befreiung in eine Schreckensherrschaft ausartete?
Wie erklärt man vor allem, dass wir Menschen nie aus der Vergangenheit lernen, sondern die Hydra der Gewalt ständig neue giftsprühende Köpfe gebiert?
Die erste Zeit nach Nicolas’ Hinrichtung überlebte Chiara mit ihren zwei Söhnen, ohne dass jemand – nicht einmal mein Großonkel – erfahren hätte, wie. In den Memoiren, die sie zum Ende ihres Lebens schrieb,
Souvenirs
, war sie, was das betraf, äußerst zurückhaltend.
Hingegen erzählt sie mit besonnenem Realismus und einer guten Portion Selbstironie, dass sie lange gezögert habe, bevor sie ihre Erfahrungen während der Revolutionsjahre niederschrieb, zumal sie nicht das Gefühl hatte, die nötige Distanz aufzubringen. Auch fiel es ihr schwer, den richtigen Erzählstil zu finden. Zunächst hatte sie sachlich sein, die Darstellung nicht durch ihren Schmerz oder ihr Temperament färben wollen. Deshalb verwendete sie die Berichtform. Die kühlen Reaktionen ihrer Freunde auf diese Versuche, die nach deren Meinung jeglicher Dynamik entbehrten und nicht mit Leben erfüllt waren, hielten sie nicht ab, weiterzuschreiben. Im Gegenteil. Sie sah ein, dass ihre ersten Versuche ein naiver Selbstbetrug gewesen waren und dass sie die Geschehnisse auf ihre ganz persönliche Weise schildern musste. Es galt, von der Ausdrucksform abzuweichen, die generell als die für das schwache Geschlecht korrekte betrachtet wurde.
Die Frauen des frühen 19. Jahrhunderts sollten auf Frauenweise schreiben, ohne den Lesern Kopfzerbrechen zu bereiten. Fleißig ein Netz aus vielerlei Existenzen weben, dem das Muster der Unruhe des Herzens und der selbstaufopfernden Barmherzigkeit zugrunde lag. Immer bescheiden, sich selbst verleugnend, sollten sich die Autorinnen zu Verfechterinnen unbestreitbarer Tugenden wie Liebe und Barmherzigkeit machen.
Aufgrund ihrer unstillbaren Sehnsucht, ihre eigene Wahrheit über die Revolution auszudrücken, vermied Chiara die hohle Rhetorik der zeitgenössischen Autorinnen. Sie wollte die Dichtung mit der Wirklichkeit konfrontieren, wollte Löcher in aufgeblasene Ballons stechen und einen Orkan auslösen, der die Lüge und Schönfärberei hinwegfegen sollte.
Nach
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