Das Elixier der Unsterblichkeit
bedrohlich wirken könnten, in den heftigen Wutausbrüchen, dem Trotz und der nachtschwarzen Angst.
Moricz Spinoza, konstatierte Freud, zeige all dies. Doch ihm fehle die genuine Neugier der Juden auf andere Menschen sowie deren Sinn für Humor und die Fähigkeit, sich selbst nicht allzu ernst zu nehmen. Der Jugendliche leide an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Er habe ein starkes Bedürfnis, im Mittelpunkt zu stehen, und es fehle ihm an Empathie. In seinem Inneren finde ständig ein Kampf statt zwischen übertriebener Begeisterung für sein eigenes Ich und Selbsthass. Normalerweise hätten Patienten mit einer solchen Störung selten das Bedürfnis, sich zu ändern. Doch Moricz sei jung, sein Verhalten werde mit größter Wahrscheinlichkeit positiv vom Erwachen der sexuellen Triebe beeinflusst werden.
Viele Jahre später, im Café Gerbeaud in Budapest, blätterte Ferenczi zerstreut im Magyar Estilap – der größten Abendzeitung, die stets sensationelle Neuigkeiten aus allen Ecken der Welt servierte – und fand einen großen Hintergrundartikel über den Putsch der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei in München im November 1923, veröffentlicht im Vorfeld des Gerichtsverfahrens gegen Hitler und seine Kumpane.
Dem Artikel zufolge hatte der Putsch damit begonnen, dass Männer in braunen Hemden mit hakenkreuzgeschmückten Armbinden in den beliebten Bürgerbräukeller stürmten und lautstark die Rede des früheren bayerischen Ministerpräsidenten unterbrachen. Dann stellte Hitler sich auf einen Tisch, schoss mit einem Revolver an die Decke, gab bekannt, die nationale Revolution sei eingeleitet, und behauptete, die Regierung des Reiches sei abgesetzt. Dies sei das Signal für die Befreiung Deutschlands vom roten Terror. Am Tag darauf marschierte er, begleitet von Trommelwirbel, an der Spitze von dreitausend politischen Anhängern, von denen ein großer Teil mit Pistolen bewaffnet war, während die anderen Hakenkreuzwimpel in den Händen hielten, ins Zentrum der Stadt. Dort gab ein Offizier den Polizeitrupps Order, das Feuer auf die Aufwiegler zu eröffnen. Es gab einen Schusswechsel. Nach zwei Stunden war die nationale Revolution abgeblasen, und zwanzig Leichen säumten die Straßen. Die Anführer wurden verhaftet und sollten wegen Hochverrats vor Gericht gestellt werden. Auf der Anklagebank saßen Hitler, Ludendorff, Röhm, Wagner und einige andere. Doch das vielleicht wichtigste Hirn hinter dem missglückten Putsch, Moricz Spinoza, war noch immer auf freiem Fuß. Der Artikel gab die Gerüchte wieder, denen zufolge er Deutschland verlassen hatte und sich in China aufhielt.
Ferenczi stutzte, als er Moricz’ Namen in der Zeitung las. Das Hirn hinter dem Versuch der Nationalsozialisten, die Macht zu ergreifen? Auf der Flucht in China? Das konnte nicht möglich sein. Er las die Absätze über Moricz noch einmal. Erregt legte er die Zeitung zur Seite und erinnerte sich an den Fall des merkwürdigen jungen Mannes, der ihm zahlreiche Räubergeschichten serviert und sich geweigert hatte, aufrichtig zu sein. Er konnte noch immer nicht an Moricz denken, ohne eine gewisse Zärtlichkeit zu empfinden.
Als Ferenczi wieder in seine Praxis kam, nahm er Moricz’ Akte aus dem Archiv und blätterte die Dokumente durch. Er warf einen Blick auf einige seiner Notizen, bevor er sich Freuds Brief vornahm. Wieder war er schockiert über die schwache Analyse. Was für ein Unsinn, nichts weiter als banale Selbstverständlichkeiten. Er erinnerte sich, dass er vom ersten Moment an enttäuscht gewesen war über Freuds Antwortbrief, dass er jedoch damals nicht gewagt hatte, den Meister in Wien zu kritisieren, um nicht taktlos zu wirken.
Er schenkte sich ein Glas Cognac ein und setzte sich auf das Therapiesofa. Er konnte die Augen nicht vor den Fakten verschließen. Es waren Freuds Zeilen gewesen, die ihn dazu gebracht hatten, Moricz’ Vater zu empfehlen, die Therapie zu beenden. Er machte sich Vorwürfe, dass er Freuds Worte so ernst genommen hatte, und stellte fest, dass es mit Nachteilen verbunden war, einander in kollegialer Freundschaft verbunden zu sein, die eine gesunde kritische Distanz aufhob. Er hätte Moricz noch aufmerksamer zuhören und das Gespräch auf die Beziehung zur Mutter lenken sollen. Vielleicht hätte die Fortsetzung der Therapie Moricz davor bewahren können, im Leben auf solche Abwege zu geraten, dachte der Arzt.
NEUE FREUNDE
Mathäus Frombichler und Moricz waren Vettern. In der Zeit vor
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