Das Elixier der Unsterblichkeit
aß doch keiner von ihnen Schweinefleisch. Jakob versuchte zu erklären, weshalb sie das Essen nicht anrührten.
Rudolf betrachtete ihn mit einer Miene, die zeigte, dass er außerstande war zu begreifen, wie jemand Mathildas Wurst ablehnen konnte. Seine Nasenflügel blähten sich, er war nervös. Er füllte mehrmals Wein in sein Glas und leerte es schnell. Um aus der schwierigen Situation herauszukommen, begann er, über die Geschichte der Familie zu sprechen. Er erzählte von frühen Ahnen, die, mit dem Schwert in der Hand und Österreich im Herzen, voller Feuer und Stolz einen heldenhaften Einsatz für den Kaiser gezeigt hatten. Sie liebten den Kaiser. Und sie liebten Gott. Selbstverständlich. Schließlich waren die Biedersterns die ältesten Söhne der Kirche im Lande. Ihm selbst fehle es an Ehrerbietung sowohl für den, der im Himmel sitze, als auch für den auf dem österreichischen Thron. Er trank mehr Wein und stellte die großartige Vergangenheit seiner Familie der fürchterlichen Gegenwart gegenüber. Er beklagte, dass es ihm verboten sei, Wien zu besuchen. Er vermisse nicht die Musik, die Kunst, die Theater oder die Lesungen. Nein, keineswegs. Er vermisse auch das mondäne Leben nicht, das seien doch bloß aufgeblasene Hanswürste, die in der Welt der Salons herumwirbelten und sich, die Nase himmelhoch, gegenseitig über ihre Dummheiten austauschten. Es sei die Stadt, nach der er sich sehne, wenn ihm die Idylle auf dem Lande hin und wieder auf die Nerven gehe. Kaiser Ferdinand, dieser Nichtsnutz, habe seine Ehe auf dem Gewissen, die er, was vor ihm noch niemand getan habe, aus Liebe geschlossen habe. Deshalb tue sich die Familie so schwer damit, ihn zu verstehen. Aus demselben Grunde habe die Aristokratie in Wien schamlose Gerüchte über ihn verbreitet. Er trank noch mehr und begann zu lallen. Mit tränenfeuchten Augen erzählte er, seine Frau sei eine unglaubliche Schönheit gewesen, jedoch nicht von der stillen Art, die zu Hause sitze und sticke. Sie sei eine Hure gewesen. Er sei ihr im besten Freudenhaus Wiens begegnet, wo sie die größte Attraktion gewesen sei. Er habe ihr sein Herz und seinen unbescholtenen Familiennamen geschenkt, doch sie habe ihn nach Strich und Faden betrogen.
Dann erhob er sich, schenkte Wein nach und hob sein Glas. Er wolle einen Toast ausbringen auf seine tote Frau, die er immer noch liebe, doch dann fiel er in Ohnmacht, fiel vornüber und landete der Länge nach auf dem Tisch, das Gesicht wenige Zentimeter vom Schweinekopf entfernt, als habe er vor, die Schnauze der Sau zu küssen.
»Pfui, er ist ein ekelhafter Mann«, sagte Chiara, aufgebracht darüber, dass Rudolf so wenig von Contenance und zivilisierten Manieren verstand. Sie wiederholte diese Worte mit Abscheu, bevor sie, blass unter dem Puder, den Raum verließ: »Pfui, er ist ein ekelhafter Mann.«
Erst spät im Leben hatte Chiara versucht, ihre Erinnerungen niederzuschreiben. Sie war weit über achtzig Jahre alt. Abgesehen von dem umfangreichen Briefwechsel mit ihrer Schwester Allegra hatte sie seit ihrem Debütroman mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor nichts mehr geschrieben. Sie hatte mehrere Versuche unternommen, war jedoch rasch in trostlose Sackgassen geraten. Es gelang ihr nie wieder, den wunderbaren Puls der Sprache und das wilde Trugbild der dichterischen Phantasie zu spüren. Das entzog ihrer Schöpferkraft die Freude und die Lust.
In ihren Memoiren schreibt sie darüber, welche Erleichterung es für sie war, einige Stunden nach der Ankunft Clementina zu begegnen. Chiaras erster Impuls nach Rudolfs Auftritt war gewesen, das Schloss zu verlassen. Doch Jakob stellte sich ihr in den Weg, obschon er einräumen musste, dass das Verhalten des Prinzen auch bei ihm solche Überlegungen ausgelöst habe. Er bat sie, ihren Widerwillen zu beherrschen und auszuharren.
Clementinas freudestrahlendes Gesicht war ein wohltuender Kontrast zu dem Rudolfs. Die Hausherrin machte kein Geheimnis aus ihrer großen Freude darüber, dass Chiara gekommen war, um auf Biederhof zu leben, das werde die Einförmigkeit ihres Daseins erleichtern. Glück sei davon abgesehen etwas, was sie seit langem nicht mehr erlebt habe. Nicht seit dem furchtbaren Tag, an dem der Wagen der Familie, gezogen von einem Vierergespann von Pferden, auf dem Weg über das zugefrorene Wasser des Neusiedler Sees durchs Eis gebrochen und ihre beiden Töchter dabei ertrunken seien. Eine lange Zeit habe sie keinen Umgang mit den Adelsfamilien in Wien gepflegt,
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